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Europäische Werte in Gefahr?

Im Wortlaut von Diether Dehm,

Droht die EU im Streit über den Umgang mit Flüchtlingen zu scheitern? Auch nach dem Brüsseler Krisentreffen liegen die Positionen weit auseinander. Im Morgenecho-Interview Dieter Dehm, europapolitischer Sprecher der Linken im Bundestag.

 

Auf der Westbalkanroute droht eine humanitäre Katastrophe. Nur ein "entschlossener, kollektiver, grenzübergreifender Ansatz im europäischen Geiste" kann laut Brüsseler Gipfel vom vergangenen Sonntag zum "Erfolg" führen. Doch von diesem Ansatz sind die betroffenen Mitgliedsstaaten weit entfernt. Der slowenische Ministerpräsidenten Cerar warnte bereits vor einem Zerfall Europas "in wenigen Wochen".


WDR 5: Besteht die Gefahr, dass Europa durch die Herausforderung der Flüchtlingskrise am Ende zerfällt?

Dieter Dehm: Erstmal haben Leute enorme Geschäfte gemacht mit den Ursachen der Flüchtlingskrise, die Rüstungsindustrie. Diejenigen, die Bomben auf Syrien geworfen haben, haben enorm verdient dabei. Wenn Sara Wagenknecht sagt, da muss man die amerikanische Regierung auch zur Kasse bitten, aber auch die deutsche Rüstungsexport-Industrie, dann ist das eine Geldquelle, mit der man auch Sozialwohnungen bauen könnte. Das wird mir zu wenig in der Debatte in der EU betont, weil die EU ja auch selber auf Geschäftemacherei und Neoliberalismus ausgelegt ist. Die EU kann es, wenn sie endlich das tut, was in ihren Verträgen nicht steht, nämlich die Sozialstaatlichkeit, die wir zum Beispiel im Grundgesetz verankert haben, ernst nimmt. Wenn sie das Geld dort herholt, wo es hingegangen ist. Die Not der einen ist immer der Reichtum der anderen.

WDR 5: Sie spielen an auf die Sozialstaatlichkeit. In Deutschland sehen wir zum Beispiel, dass diese Sozialstaatlichkeit relativ gut funktioniert. Auch in Zeiten, in denen wir diesen Flüchtlingszustrom erleben. Den kann man aber schlecht so ohne weiteres auf Europa kopieren, ist es da nicht ein bisschen kurzgesprungen wenn man sagt, das Problem ist eigentlich nur, dass wir neoliberal sind?

Dieter Dehm: Nein, um Gottes Willen, das habe ich auch nicht gesagt. In Hannover fehlten – bevor Flüchtlingsstrom, Völkerwanderung oder wie auch immer man das nennen mag – begannen, 21.000 Sozialwohnungen. Wenn sich dann die sogenannten "kleinen Leute" Sorgen machen, oder wenn Balgereien entstehen unter den sogenannten "kleinen Leuten" mit Flüchtlingen um eine Winterjacke, die vielleicht in der Kleiderkammer fehlt, oder um die Sozialwohnung, auf die der ein oder andere schon ganz lange wartet, dann muss man da ein offenes Ohr für haben. Da einfach drüber Hinwegstolzieren und sagen, das sind alles Rassisten, die da Sorgen und Ängste formulieren, ist ganz falsch.

WDR 5: Aber was macht man, wenn man das offene Ohr hat? Und das hat man ja. Was ist der nächste Schritt?

Dieter Dehm: Nein, das hat man nicht. Wenn man es hätte müsste man die Menschen so behandeln, wie es Artikel 1 des Grundgesetzes will, d.h. Sozialwohnungen bauen. Ich denke nicht, dass wir einen unlimitierten Flüchtlingszustrom auf Dauer für rechtlich darstellbar halten. Auf der anderen Seite muss es auch eine europäische Staatlichkeit geben, die es natürlich nicht gibt. Wir haben es mit einem enormen Staatsversagen auf EU-Ebene und auf Deutschland-Ebene zu tun und es rächt sich bitter, alle Ratschläge, die Die Linke im Bundestag gemacht hat, in den Wind geschlagen zu haben.

WDR 5: Was Sie fordern unterscheidet sich nicht groß von dem, was andere deutsche Politiker aus anderen Parteien fordern, nämlich eine europäische Herangehensweise. Man geht es aber nicht europäisch an. Ist das eine Gefahr für Europa, tatsächlich daran zu zerbröseln?

Dieter Dehm: Das Problem ist, dass die EU, so wie die verfasst ist, eine Freihandelszone ist. Sie ist im Wesentlichen nur an wirtschaftlichem Profit orientiert. Sie hat nicht die staatliche Seele, die das Grundgesetz beispielsweise hat, also Sozialstaatlichkeit etc.

WDR 5: Aber sie ist doch eine Wertegemeinschaft.

Dieter Dehm: Nein, sie ist eben keine Wertegemeinschaft.

WDR 5: Die EU ist Trägerin des Friedensnobelpreises, der kommt nicht irgendwo her.

Dieter Dehm: Den Friedensnobelpreis können sie sich in die Haare schmieren, der ist völlig falsch vergeben, so wie er an Obama auch falsch vergeben ist. Das ganze Konstrukt hat nicht die Kraft und den Zusammenhalt unseres Grundgesetzes. Wenn es zerbröseln sollte, ist das natürlich immer eine Katastrophe, weil jedes Zerbröseln immer rechte Kräfte stark macht. Es ist die Schuld des Lissabon-Vertrages, dieser ganzen Verfasstheit, in der all diese Dinge absehbar waren. Es ist doch nicht so, dass wir erst seit gestern wissen, dass Menschen sich auf die Flucht begeben.

WDR 5: Heißt das, wir müssten der EU nur eine andere Grundverfasstheit geben, das sozialstaatliche Prinzip verinnerlichen, eine linkere Wirtschaftspolitik machen und alles wird gut? Auch mit Blick auf die Flüchtlinge?

Dieter Dehm: Sie machen immer mit dem Wort "nur" einen Schlenker rein. Da wir eine multifaktorale Situation haben, brauchen wir auch eine multifaktorale Antwort. Das Wort "nur" ist hier Gift. Wir brauchen das auch. Aber wir müssen natürlich auch darauf achten, dass man bestimmte Leute von bestimmten Aussagen und auch Handlungen abhält, wie Herrn Orban (Ministerpräsident Ungarn, Anm. d. Red.). Was Orban hier macht ist schon die Lunte an die EU legen. Und was bestimmte rechte Demagogen machen, die irgendeinen Blödsinn behaupten, man könne die EU umzäunen und den Zaun womöglich elektrisch laden, das ist alles Quatsch. Auf der anderen Seite geht es aber auch nicht, wenn wir sagen es gibt nun eine vollkommene Grenzenlosigkeit für alle.

WDR 5: Das, Herr Dehm, ist doch der spannende Punkt. Das haben Sie ja auch gesagt, dass es eine grenzenlose Möglichkeit für Flüchtlinge nach Deutschland und nicht nur nach Europa insgesamt zu kommen, nicht geben kann. Was heißt denn das?

Dieter Dehm: Das heißt Erstens: Not kennt kein Gebot. In der Not muss erst einmal gehandelt werden. Auf Dauer – es befinden sich 60 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht – können nicht alle nach Nord- oder Zentraleuropa kommen. Es muss eine Lösung geben. Und im Übrigen möchte ich, dass Kinderärzte, Ingenieure und Architekten möglichst in ihren Ländern bleiben, es sei denn, sie sind politisch verfolgt.

WDR 5: Und was wollen sie dafür tun? Was wäre Ihre politische Forderung, um dem auch nur ein Stückchen näher zu kommen?

Dieter Dehm: Indem die wirtschaftlichen Anreize in den Ländern nicht kaputt konkurriert werden von der EU und ihren Konzernen, sondern darauf geachtet wird, dass andere auch Luft zum Leben brauchen, nicht nur Griechen, sondern auch afrikanische Länder. Was wir machen mit dem Freihandelsabkommen und der Wirtschaftspolitik ist, dass wir sämtliche wirtschaftlichen Anreize, dass die Menschen bleiben, sukzessive abbauen und zerstören. Gleichzeitig sagt Herr Zetsche von Daimler, das ist ja prima, der Flüchtlingsstrom, da suchen wir uns nur die leistungsfähigen Ingenieure aus. Das sind die Dinge, die nicht gehen, das ist zynisch.

Wir müssen für eine gerechte Weltwirtschaftsordnung sorgen, nicht Libyen bombardieren und uns dann wundern, dass die Menschen hier her kommen. Kein Mensch hat den USA gesagt, dass sie Gaddafi wegbomben sollen, der hatte den Staat – bei all seiner Verrücktheit – irgendwo noch im Griff und jeden dritten Dollar, den er eingenommen hat, hat er in den Sozialstaat gesteckt. Aber nein, es musste erstmal bombardiert werden. Diese ganzen Dinge rächen sich natürlich. Ich will ja wenn ich jetzt über den Flüchtlingsstrom spreche, und da haben Sie mit Ihren Fragen, die auf die Aktualität gehen völlig recht, auch die Flüchtlingsströme von Überübermorgen meiden helfen, denn dieses Problem wird ja offensichtlich eine ganze Generation beschäftigen, dass Menschen sich aus verschiedenen Gründen auf die Flucht machen. Die politisch Verfolgten haben hier uneingeschränkt Asyl zu bekommen. Das habe ich als Sozialdemokrat vertreten, damals sogar gegen Parteivorsitzende, die mir sehr nahe standen, und das vertrete ich heute.


Interview: Holger Beckmann


WDR 5, 27. Oktober 2015