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Europa ohne Barrieren

Im Wortlaut von Ilja Seifert,

Artikel von Ilja Seifert in Neues Deutschland.

»Das Motto der tschechischen Ratspräsidentschaft ›Europa ohne Barrieren‹ bezieht sich nicht auf die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, sondern betrifft Fragen der grenzüberschreitenden Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Gemeinschaft.« So die Antwort von Staatsminister Gernot Erler (SPD) vom 13. Februar 2009 auf meine Anfrage im Bundestag. Hat die UN-Behindertenrechtskonvention etwa nichts mit »grenzüberschreitender Freizügigkeit« zu tun?

In der EU leben etwa 50 Millionen Menschen mit Behinderung. Trotz ihres Rechts auf gleiche Teilhabe stoßen sie noch immer auf (fast) unüberwindbare Hindernisse, sei es bei der Suche nach Arbeit oder einer geeigneten Wohnung, hinsichtlich ihrer Mobilität, ihrer Partnerschaften oder des Zugangs zu Bildung, Kultur und Medien usw..

Es gibt eine EU-Strategie für Menschen mit Behinderungen (2004-2010). Sie will Barrieren abbauen. 2003 hieß »Jahr der Menschen mit Behinderungen«, 2007 »Jahr der Chancengleichheit«. Symbolische Aktivitäten. Die bekannten Probleme blieben. Aktuelle Konjunkturprogramme müssten an die Pflicht zur Barrierenbeseitigung gekoppelt werden. Das wäre Nachhaltigkeit!

Auch die Europäische Union selbst unterzeichnete die UN-Behindertenrechts-Konvention, nicht nur einzelne Mitgliedsstaaten. Dies war eine EU-Premiere! Deutschland ratifizierte die Konvention inzwischen. Andere Mitgliedsländer (Polen, Estland, Lettland, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Slowakei und Zypern) haben sie noch nicht einmal unterzeichnet. Ist nun »volle Teilhabe« Ziel europäischer Politik? Oder nicht? Sollen Barrieren - baulicher, kommunikativer und kognitiver Art; aber auch die in den Köpfen - beseitigt werden? Oder nicht?

DIE LINKE bekennt sich in ihrem Europawahlprogramm klar zur konsequenten Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention, zu Barrierenbeseitigung und Nachteilsausgleich zur Teilhabeermöglichung. Dies ist angesichts der bestehenden Widerstände und Ignoranz seitens der Regierenden und auch aus der Wirtschaft ein wichtiges politisches Signal.

Menschen (mit und ohne Behinderungen) haben das Recht auf volle Teilhabe und freie Persönlichkeitsentfaltung. Barrierefreiheit ist eine der Voraussetzungen dafür. Es ist Aufgabe der Staaten, behinderungsbedingte Nachteile auszugleichen. Nicht die Menschen (mit oder ohne Beeinträchtigungen) - so die Konvention - müssen sich den Gegebenheiten anpassen, sondern umgekehrt: Die Verhältnisse sind so umzugestalten, dass sie von allen zweckentsprechend genutzt und für jede/n selbstbestimmt erreichbar sind. Barrieren, die Mobilität begrenzen, den Zugang zu Information und Kultur beschränken oder in unnötiger Weise von der Hilfe anderer Menschen abhängig machen, müssen beseitigt werden. Intensiver Erfahrungsaustausch in der EU, der Betroffenen-Sachverstand ernst nimmt, sowie vergleichbare Gesetze, Regelungen und Normen bringen Nutzen für alle. Ich meine: Staatsminister Erler irrt, wenn er sagt, dass Fragen der »grenzüberschreitenden Freizügigkeit« nichts mit der UN-Behindertenrechtskonvention gemein haben.

Von Ilja Seifert

Neues Deutschland, 13. März 2009