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Recep Tayyip Erdogan zeigt bei einer Rede in Istanbul zum Jahrestag des gescheiterten Militärputsches am 15. Juli 2019 den Rabia-Gruß der Muslim-Brüder. Foto: © picture alliance / AP ImagesFoto: picture alliance / AP Images

EU-Türkeipolitik: Klare Kante statt Annäherung um jeden Preis

Im Wortlaut von Sevim Dagdelen,

Von Sevim Dagdelen, Obfrau der Fraktion DIE LINKE im Auswärtigen Ausschuss.


Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit? Wenn es um die Türkei geht, zählt all das für die Friedensnobelpreisträgerin EU nichts, und auch nicht für die Bundesregierung. Es ist eine einzige Schande, dass EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel in dieser Woche dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan mit ihrem Besuch in Ankara zu einem PR-Coup verholfen haben, während in dessen Knästen Zehntausende politische Gefangene schmoren. Schlimmer noch: Trotz der innenpolitischen Repression und anhaltenden außenpolitischen Aggressionen bietet die EU dem Autokraten Erdogan eine Ausweitung der Zollunion an. Wer dem islamistisch-faschistischen AKP-MHP-Regime in der Türkei derart wirtschaftlich unter die Arme greift, braucht von einer Wertegemeinschaft und Menschenrechten nicht weiter zu reden. 

Erdogan ist der Mann fürs Grobe, in der NATO wie in der EU.Für die geopolitische Frontstellung gegen Russland ist der Autokrat enger Partner des Militärpakts mit Carte Blanche für permanenten Völkerrechtsbruch etwa beim Einmarsch in Syrien an der Seite islamistischer Mörderbanden oder bei Bombardements im Norden des Irak, für illegale Waffenlieferungen an Libyen unter Bruch des UN-Embargos oder militärische Unterstützung der aserbaidschanischen Autokratenfamilie Alijew bei der Vertreibung der Armenier aus Berg-Karabach. 

Für die Europäische Union soll Erdogan die Flüchtlingsabwehr übernehmen. Den Posten des Türstehers lässt er sich mit Milliarden bezahlen. Mit dem von Bundeskanzlerin Angela Merkel 2016 eingefädelten Flüchtlingsdeal haben sich die Bundesregierung und die EU erpressbar gemacht. Statt das schäbige Abkommen mit der Türkei aufzukündigen, wird jetzt eine Neuauflage verhandelt. Wie sehr Erdogan das Heft des Handelns in Händen hält, wird an symbolischen Gesten und konkreten Taten deutlich. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen lässt sich bei der Unterredung von Erdogan aufs Sofa am Katzentisch verbannen, der Menschenrechtler und HDP-Abgeordnete Ömer Faruk Gergerlioğlu kommt während der EU-Visite ins Gefängnis.

Die Immunitätsaufhebung und Verhaftung des Abgeordneten Gergerlioğlu von der Demokratischen Partei der Völker (HDP) und das Verbotsverfahren gegen die zweitgrößte Oppositionspartei reihen sich ein in die jahrelange Verfolgung der türkischen Opposition: Fast täglich werden in der Türkei Mitglieder und Anhänger der HDP mit hanebüchenen Terrorvorwürfen festgenommen. Zahlreiche HDP-Bürgermeister in den Kommunen wurden abgesetzt, verhaftet und durch Zwangsverwalter ersetzt. Entgegen der Anordnung einer sofortigen Freilassung durch den Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sind der ehemalige Parteivorsitzende Selahattin Demirtaş und seine Co-Vorsitzende Figen Yüksekdağ weiterhin in Haft. Sie allen voran hätte das EU-Duo besuchen müssen, statt ihrem Peiniger Erdogan die Aufwartung zu machen. Die Demokratinnen und Demokraten in der Türkei, die protestierenden Studentinnen und Studenten, die verfolgten Journalistinnen und Journalisten lassen die Brüsseler Spitzen so kläglich im Stich.

Kritiker aus dem In- und Ausland im Knast

Unter den repressiven Maßnahmen der islamistisch-faschistischen AKP-MHP-Regierung Erdogans leiden auch Kritiker und Oppositionelle aus dem Ausland: Insgesamt 61 deutsche Staatsbürger sind derzeit in türkischen Gefängnissen inhaftiert, 14 davon wegen der vermeintlichen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, wie aus einer aktuellen Anfrage von mir an die Bundesregierung hervorgeht.

Auch in außenpolitischen Fragen fantasieren sich die EU-Vertreter ebenso wie kürzlich Außenminister Heiko Maas „positive Signale aus der Türkei“ herbei. Als Beleg für das „positive Verhalten“ werden der vorläufige Rückzug der türkischen Explorationsschiffe aus dem Hoheitsgebiet der EU-Mitglieder Griechenland und Zypern im östlichen Mittelmeer und die Bereitschaft Erdogans zu Gesprächen mit Griechenland auf untergeordneter Ebene angeführt. Nur: Ein Einlenken der Türkei im Erdgasstreit ist keineswegs zu erwarten. Noch bevor die Tinte unter der Türkei-Erklärung des EU-Gipfels Ende März trocken war, hatte der türkische Energieminister angekündigt, bald erneut ein Bohrschiff ins östliche Mittelmeer zu entsenden.

Statt Ankara aus geopolitischen Erwägungen eine Ausweitung der Zollunion in Aussicht zu stellen und damit Erdogan zur Verschärfung seiner innenpolitischen Repression sowie zu weiteren außenpolitischen Aggressionen auch noch zu ermuntern, müssen die privilegierten Wirtschafts-, Finanz- und Waffenhilfen für den Autokraten gestoppt werden. DIE LINKE fordert eine Aussetzung der Zollunion, da Ankara das EU-Türkei-Assoziierungsabkommen durch seine Aggressionspolitik verletzt. Klare Kante gegen Erdogan statt Annäherung um jeden Preis!