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"Es geht um soziale Solidarität in der Gesellschaft"

Im Wortlaut von Gregor Gysi,

Jürgen Reents vom Neuen Deutschland sprach mit dem Fraktionsvorsitzenden der LINKEN im Bundestag, Gregor Gysi.

Im Interview mit dem Chefredakteur des Neuen Deutschland, Jürgen Reents, erklärt Gregor Gysi, Fraktionsvorsitzender DIE LINKE. im Bundestag, warum Konservative anfangen zu begreifen, dass DIE LINKE recht hat, warum der Kapitalismus auf dem Weg ist, sich selbst zu zerstören und warum soziale Solidarität ein Wert ist, für den sich zu kämpfen lohnt.

Das Wahljahr 2011 war für die Grünen die reine Freude, der SPD brachte es Zuwächse, der CDU überwiegend Verluste, für die FDP war es ein Desaster. Was war dieses Jahr für die LINKE?

  Gregor Gysi: Wir haben unsere Wahlziele nicht erreicht. Wir haben kein Desaster wie die FDP, aber auch nicht den Aufschwung genommen, den wir aus politischen Gründen hätten nehmen müssen.   Ein Jahr der verpassten Chancen?   Die Finanzkrise unterstreicht, dass die LINKE im Kern ihrer Aussagen recht hat. Das räumen inzwischen sogar Konservative ein. Die Kritik am Marktfundamentalismus wächst, unsere Wahlergebnisse halten nicht mit.   Die LINKE hat recht, nur der Wähler honoriert das nicht?   Na, ich sage mal: Die Konservativen begreifen, dass die LINKE recht hat, jetzt muss es nur noch die LINKE begreifen.   Aus Ihrer Parteispitze war nach der Berlin-Wahl zu hören, dass das Wahlergebnis ungerecht sei, weil die SPD in der Regierung bleibt und die LINKE nicht. Empfinden Sie das auch so?   Das hilft nicht weiter. Der Maßstab ist immer: Was haben wir landes- und bundespolitisch falsch gemacht, dass wir Menschen nicht erreicht haben, die wir eigentlich hätten erreichen können. Zudem müssen wir über einiges völlig neu nachdenken: Die Piratenpartei ist Ausdruck eines neuen Lebensgefühls. Das hängt mit einer neuen Generation und ihrem neuen Freiheitsbegriff zusammen. Nicht nur wir, alle anderen Parteien wirken da abseits.   Mit Unterschieden, trotz Konkurrenz sind die Grünen im Aufwind. Die LINKE ist bei der Jugend völlig eingebrochen.   Der Aufwind der Grünen lässt bereits nach. Gerade für sie sind die Piraten problematisch. Sie sprechen die Wählerschaft an, die die Grünen früher erreichten.

Reden wir über die LINKE – deren Probleme sind größer.   Unbestritten. Aber noch ist nicht absehbar, ob die Piraten Bestand haben, momentan erscheint manches als Kabarett. So, wenn sie sagen, Bus und Bahn müssten gebührenfrei sein, und damit sanieren wir den Haushalt. Diesen Humor kann die LINKE so nicht aufbringen. Aber wir müssen diese Lebensphilosophie ergründen, uns Mühe geben zu verstehen, was die jungen Leute, die die Piraten wählen, denken.   Hilft es, etwas zu verstehen, was man selbst gar nicht ausstrahlen will?   Das hilft nicht, um Stimmen zu erreichen. Aber man kann anders damit umgehen. Man kann das Gespräch suchen und versuchen, sie für andere Denkweisen zu öffnen.   Die LINKE als Missionarin – liegt nicht auch darin eines ihrer Probleme?   Nein, wir sind keine Missionare, das ist nicht unser Problem. Im Gegenteil: Eines unserer Probleme ist, dass wir zerstritten wirken. Auf Wähler macht das den Eindruck, wir kümmerten uns nicht um ihre, sondern permanent um unsere eigenen Probleme. Eine Partei gründet man nicht zur Auseinandersetzung untereinander, sondern um Politik für die Menschen zu machen.   Öffentliche Diskussion kann auch öffentliche Teilhabe an Entscheidungen über den politischen Kurs bedeuten. Sind nicht eher die Themen und die Art des linken Streits zu wenig attraktiv?   Wir müssen uns vor zu viel Selbstbeschäftigung hüten. Unsere Debatte über das Parteiprogramm ist wichtig, aber nur mit dem Ziel, den Bürgerinnen und Bürgern zu sagen, wohin wir wollen. Darüber müssen wir uns verständigen. Wenn uns mehr beschäftigt, wer welche Rolle in der Partei spielt und wer möglichst eine geringere spielen soll, statt wie wir dazu beitragen, Menschen aus der Arbeitslosigkeit zu bringen, eine gerechte Rente zu bekommen und anderes, dann läuft etwas falsch.   Das Hauptthema der LINKEN ist das der sozialen Gerechtigkeit. Viele derjenigen, die unter Hartz IV, Arbeitslosigkeit oder knapper Rente leiden, bleiben Wahlen inzwischen fern. Ist das ein Strukturproblem der LINKEN, dass sie Politik für Menschen macht, die keine oder nur wenig Hoffnung haben, ihr Schicksal durch Wahlen beeinflussen zu können?   Das ist so. Aber wir setzen uns nicht für Obdachlose ein, weil wir mit Stimmen von ihnen rechnen, sie werden wir als Wähler kaum erreichen. Es geht um soziale Solidarität in der Gesellschaft. Ein Strukturproblem linker Politik entsteht, wenn eine Gesellschaft sich entsolidarisiert. Das haben wir in Hamburg beim gescheiterten Volksentscheid für ein gerechteres Bildungssystem gesehen. Aufgabe der LINKEN ist es, auch unter ungünstigen Bedingungen für den Wert sozialer Solidarität zu kämpfen.    Einige Themen der LINKEN, z. B. die Frage des Mindestlohns, wurden inzwischen von der SPD aufgesogen. Auch bezüglich Afghanistan sind sich nun alle einig: Die Bundeswehr wird abgezogen, ohne dass die LINKE noch darauf drängen muss. Hat sich ihre Mahnfunktion erledigt?   Im Gegenteil. Beide Beispiele beweisen, wie wichtig der Druck der LINKEN war und bleibt. Im Übrigen ist noch kein Soldat der Bundeswehr aus Afghanistan abgezogen. Auch bei der Agenda 2010 und damit Hartz IV ist die SPD nur nachdenklich geworden, weil wir mit knapp 12 Prozent stark in den Bundestag einzogen. Wären wir nicht mehr stark und die SPD wieder in der Regierung, ist nichts davon garantiert.   Diese Feststellung wiederholen Sie seit Jahren …   Das macht sie nicht falsch.   Aber reicht es als politische Rolle, eine Art Gewissenswächter der SPD zu sein?   Darauf reduziert sich die Funktion der LINKEN doch nicht. Wir sind jetzt in einem ganz anderen Sinne gefragt. Wir haben es mit einer gewaltigen Krise zu tun. Niemand weiß momentan, was aus dem Euro und was aus den Euro-Staaten wird. Niemand weiß, was mithin aus der EU wird. Die Regierenden zeigen keinen Ansatz, diese Probleme zu lösen. Sie trauen sich nicht, ernsthaft etwas gegen die Diktatur der Finanzmärkte zu unternehmen. Diesen politischen Willen verkörpert allein die LINKE.   Wir sind wieder beim Punkt zurück: Allein der Wähler glaubt es nicht?   Den Menschen erscheint die Politik inzwischen generell machtlos zu sein gegenüber den Finanzmärkten. Und viele scheuen bei zunehmendem Durcheinander das politische Experiment, das wir für die Leute bundespolitisch noch sind. Allerdings gab es am Berliner Wahlsonntag eine ARD-Umfrage, wonach der LINKEN an dritter Stelle hinter CDU und SPD – eher als den Grünen oder FDP – eine Lösung der Krise zugetraut wird. Das ist für uns ein beachtlicher Fortschritt.   Und warum geht es mit der LINKEN dennoch nicht voran?   Wir haben vier Probleme. Erstens waren wir noch nie in einer Bundesregierung. Die Leute wissen also nicht, ob wir das, was wir sagen, auch real umsetzen können …   Gleich beißt die Katze sich in den Schwanz. Die LINKE nähert sich zur Zeit eher dem Problem, ihre parlamentarische Existenz zu sichern.   Nein, davon gehe ich nicht aus. Trotzdem: Mir begegnet oft die Meinung, unsere Vorschläge seien gut, aber es fehle die Erfahrung, dass sie umsetzbar sind. Zweitens – ich wiederhole das – hat uns ein Drang zur Selbstbeschäftigung sehr geschadet. Den müssen wir schnell überwinden. Die Bundestagsfraktion hat auf ihrer Klausur in Rostock gut damit begonnen. Drittens begegnet uns, gerade in Krisensituationen, die erwähnte Angst vorm Experiment. Und viertens reduzieren viele Medien uns auf unsere internen Auseinandersetzungen. Ich las gerade in einer Agenturmeldung, dass irgendein Grüner eine öffentlich-rechtliche Bank in Europa fordert, die Direktkredite an Griechenland vergeben soll. Ja, das fordern wir seit Monaten – nur die Medien hat es bei uns nicht interessiert.   Sie kommen immer auf die Selbstbeschäftigung zurück. Was meinen Sie konkret damit?   Zum Beispiel die Frage, ob die Parteivorsitzenden die richtigen oder falschen sind, ob die Gruppe A oder die Gruppe B die schlimmere ist. Vieles lief denunziatorisch.   Die Debatte um die Parteispitze entzündete sich jeweils neu an bestimmten politischen Äußerungen, zum Kommunismus, zum Mauerbau, zum Brief an Fidel Castro …   Die Personaldebatte gab es doch vorher schon, und es wurden immer neue Gelegenheiten dafür genutzt. Natürlich sind auch Fehler begangen worden.   Worin bestehen diese beim innerparteilichen Streit um die DDR-Vergangenheit?   Wir leben in der Bundesrepublik Deutschland. Die ist nicht nur größer geworden, wie im Westen manche meinen, sondern der Osten verändert sie. Umgekehrt können Sichtweisen aus dem Gebiet der ehemaligen DDR auch nicht mehr unser alleiniger Maßstab sein. Einige in unserer Partei haben noch nicht wirklich verinnerlicht, dass sie die Menschen in Bayern und Schleswig-Holstein in ihre politische Kultur und ihre Sprache mit einbeziehen müssen. Werden wir zu einer DDR-Partei, dann sind wir tot.    Ist die Bewertung etwa des Mauerbaus eine Frage des eigenen geografischen Standortes?   Die Bundesrepublik Deutschland ist größer als ein Ostberliner Bezirk. Es geht um die Art, wie ich über etwas spreche, auch um Wissen, das ich voraussetzen oder nicht voraussetzen kann. Was weiß denn jemand in Bayern von den früheren Grenzgängern, die in Ostberlin wohnten und in Westberlin arbeiteten, ihr Geld an den Wechselstuben 1:5 umtauschten, die subventionierten Lebensmittel in Ostberlin kauften, ohne an der Erwirtschaftung teilzunehmen? Wenn ich weiß, dass jemand das nicht weiß, darf ich nicht in Verkürzungen argumentieren, ohne dass es zu Missverständnissen kommt. Inhaltlich muss jedem klar sein: Wir lehnen einen autoritären Sozialismus strikt ab. Ich mache mir Sorgen, wenn einzelne Äußerungen das Missverständnis wecken, wir würden diesen rechtfertigen.   Sind es nur Missverständnisse oder wird der autoritäre Sozialismus in Teilen der Partei verharmlost?   Es gibt Parteimitglieder, die haben ein Bedürfnis, ihre eigene Biografie zu verteidigen. Das kann ich gut nachempfinden. Dabei verteidigen sie die DDR allerdings in einer Weise, wie sie es nicht verdient hat.   Sie scheuen eine deutlichere Kritik, um bei niemandem anzuecken – vielleicht ist auch das ein Problem der innerparteilichen Debatte?   Ja, das ist ein Problem meines ganzen Lebens. Trotzdem musste ich mich mit Richtern und Staatsanwälten, später mit vielen in der Politik anlegen. Ich scheue das in Wirklichkeit ja auch nicht. Aber ich weiß: Noch sind wir verschiedene Teile in der Partei, noch ist die LINKE nicht wirklich zusammengewachsen. Und ich kann und will, zumindest was relevante Teile der Partei betrifft, auf keinen verzichten. Ich bin Zentrist, das ist eine schwierige, gelegentlich auch einsame Rolle zwischen allen Stühlen.   Die LINKE hat Regierungserfahrung in Berlin und in Mecklenburg-Vorpommern gesammelt und sammelt sie weiter in Brandenburg. Ist sie an der Regierung entzaubert worden?   Das ist ein Medienbegriff.   Einwand notiert. Und in der Sache?   Auch regieren muss man lernen. In Berlin haben wir in der ersten Legislaturperiode z. B. den Fehler begangen, dem Verkauf einer landeseigenen Wohnungsgesellschaft zuzustimmen. Das hatte in der zweiten Legislaturperiode Folgen, auch wenn wir den Fehler eingeräumt haben. Dafür mussten wir bezahlen, obwohl so viel sozial, wirtschaftlich, arbeitsmarktpolitisch und kulturell geleistet wurde. Aber wenn man um Akzeptanz ringt, macht man gelegentlich einen Kompromiss zu viel.    Es war ein Merkmal der PDS, dass sie sich um Alltagssorgen kümmerte und zugleich versuchte, über den Horizont dieser Gesellschaft hinauszudenken. Was von beidem ist mehr verloren gegangen?   Eindeutig: Wir sind nicht mehr in dem Umfang eine Kümmerer-Partei, wie wir es mal waren. Zum Teil liegt das daran, dass unsere Mitglieder älter geworden sind und bestimmte von ihnen getragene Strukturen nicht mehr existieren.   Sollte die LINKE etwas von dieser Tradition zurückgewinnen?   Ja, aber ich habe keinen unmittelbaren Lösungsansatz dafür. Wir müssten ausreichend neue Mitglieder gewinnen, die sich vor Ort, z. B. in Bürgersprechstunden, um die Alltagsprobleme der Menschen kümmern. Man darf das jedenfalls nicht für unwichtig halten und so tun, als ob die LINKE vor allem dazu da sei, die Welt als Ganzes zu verändern, und man deshalb wenig Zeit für eine Rentnerin hat.   Ich zitiere: »Aus Europa muss ein politisches Projekt werden, an dessen Ende erst eine gemeinsame Währung steht.« Das stammt aus einem Interview mit Ihnen vor 14 Jahren. Sie forderten damals eine Angleichung der sozialen, ökologischen und juristischen Standards in Europa als Voraussetzung für die Einführung des Euro. Wenn man das nicht mache, würde der Markt für die Angleichung sorgen, nach unten. Sehen Sie Ihre Prophezeiung erfüllt?   Sie etwa nicht?   Müsste die LINKE sich dann nicht stärker für eine umfassende europäische Vereinigung engagieren, für einen europäischen Bundesstaat, eine Art »Vereinigte Staaten von Europa«?   Momentan geht es um die Rettung des Euro und den Bestand der Europäischen Union. Wir LINKEN sind diejenigen, die sich Gedanken darum machen, obwohl wir die einzigen waren, die bei der Euro-Einführung skeptisch auf die fehlenden Bedingungen hinwiesen. Die Europäische Union ist wichtig, weil sie erstmalig garantiert, dass zwischen ihren Mitgliedsländern keine Kriege mehr stattfinden. Zweitens hat Europa auch ökonomisch weltweit nur eine Chance, wenn diese Zusammenarbeit organisiert wird. Die aktuelle Politik bewirkt das Gegenteil. Darauf mit einer Losung nach den Vereinigten Staaten von Europa zu antworten, wäre zur Zeit falsch. Es gibt keine Verfassung und es gibt keinen Willen in den Bevölkerungen dazu, im Gegenteil.   Die LINKE könnte sich zum Vorreiter einer demokratischen europäischen Idee machen und beginnen, ein Konzept zu erarbeiten.   Schon, aber die Entwicklungsstände in Europa sind noch sehr unterschiedlich. Die LINKE darf auch nicht unterschätzen, dass die Menschen nicht in dem Maße europäisch empfinden. Man darf sich von der Situation der Leute nicht zu weit entfernen, wenn man wirksam Politik machen will.   Die Menschen wollen in ihrer Mehrheit bislang auch nicht in einem Sozialismus leben, selbst wenn ihm das Attribut demokratisch voransteht. Die LINKE streitet dennoch dafür.   Das ist schon richtig. Immerhin haben wir inzwischen eine kapitalismuskritische Stimmung, selbst in katholischen Gegenden Deutschlands, wie sie noch vor 10, 15 Jahren völlig undenkbar war. Es ist keine prosozialistische Stimmung, auch noch keine antikapitalistische, aber eine deutlich kapitalismuskritische. Der Kapitalismus wird gegenwärtig ja nicht von der LINKEN zerstört, sondern vom Finanzmarkt.   Und Europa droht ebenfalls von den Finanzmärkten zerstört zu werden.   Deshalb müssen wir um eine neue europäische Strategie kämpfen. Wir haben eine Wirtschaftsregierung vorgeschlagen. Nun hat die Bundeskanzlerin sich dem genähert, meint aber etwas völlig anderes damit. Wir sagen, es kann nicht eine Binnenwährung und einen Binnenmarkt geben, ohne daraus Schlussfolgerungen für die Abstimmung der Politik in den beteiligten Ländern zu ziehen. Man redet immer noch davon, dass man nach Italien exportiert, trotz Binnenwährung. Wir sagen doch auch nicht, Bayern exportiert nach Schleswig-Holstein. Die herrschende Politik hat nicht begriffen, was sie selbst eingeführt hat.   Ist das Problem der LINKEN nicht, dass zu viele in ihren Reihen, darunter auch verantwortliche Europa-Politiker, selbst immer wieder für nationalstaatliche Lösungen plädieren?   Das ist falsch. Wir kämpfen um die europäische Union, das akzeptieren alle in der Bundestagsfraktion. Aber wir wollen natürlich, dass die Parlamentsrechte erhalten bleiben. Denn je zentraler Macht organisiert wird, desto weiter ist sie von den Leuten entfernt. Man muss die Europäische Union so organisieren, dass auf europäischer Ebene nur entschieden wird, was europäisch entschieden werden muss. Das gilt analog für den Bund und für die Landesebene. Und was kommunal entschieden werden kann, sollte wieder zurück in die Kommune gehen. Dort leben die Leute, dort arbeiten sie, dort verbringen sie ihre Freizeit.   Wie wollen Sie dem neu um sich greifenden nationalstaatlichen Rechtspopulismus in Europa – zum Glück in Deutschland noch geringer als anderswo – begegnen, wenn nicht mit mehr Entschlossenheit bei der demokratischen Integration Europas?   Das machen wir ja. Aber wenn wir jetzt für die Vereinigten Staaten von Europa eintreten, dann hören die Leute gar nicht zu, weil das etwas ist, was sie ablehnen. Aus demselben Grund habe ich zu bestimmten Zeiten den Begriff des Kapitalismus kaum gebraucht, sondern ohne diesen Begriff erklärt, was mich an der Gesellschaft stört. Mit einer Kapitalismuskritik, die den Zugang zu den Menschen suchte, aber ich habe es nicht so genannt. Manche haben einen Tick ins Dogmatische, sie sagen, sie ließen sich von anderen niemals die Vokabeln vorschreiben. Sie reden, egal ob sie die Leute erreichen. Mein Bemühen ist ein anderes. Ich will, dass die Leute mir zuhören, dass sie meine Kritik verstehen. Bei Vokabeln mache ich gerne Kompromisse, aber nicht in der Sache.   Haben Sie Sorge vor einer anti-europäischen Stimmung in Deutschland?   Ich bin froh, dass die Deutschen bislang nicht so reagieren und der anti-europäische Rechtspopulismus der FDP jämmerlich gescheitert ist. Der Grund ist: Die Menschen wissen, dass Deutschland der Hauptnutznießer des Euro ist. Wir sind Export-Vize-Weltmeister. Frau Merkel versucht den Euro für die deutsche Wirtschaft zu retten, nicht weil sie wegen des Schicksals der Griechinnen und Griechen nachts nicht schlafen kann. Gravierend ist, dass jetzt Geld eingesetzt wird. Griechenland wurde aber ein Sparprogramm aufgedrückt, das die griechische Wirtschaft ruinieren wird. Folglich hat Athen weniger Steuereinnahmen und wird die Schulden nicht zurückzahlen können. Die Banken bedienen sich dann beim Rettungsschirm. Stattdessen brauchten wir eine Art Marshallplan, um Griechenland wieder aufzubauen. Dann bekämen wir auch unser Geld zurück, und dann könnten wir den europäischen Gedanken wieder ganz anders fördern.   Sie beklagen, das Zentrum der LINKEN sei zu schwach. Das meint?   Viele in der Partei neigen dazu, sich für A oder für B zu entscheiden. Ich will A und B, auch wenn das Verhältnis schwierig ist. Als Zentrist bin ich davon überzeugt, dass unsere Partei an Wert einbüßte, wenn sie ihren radikaler oder ihren reformistischer denkenden Teil verlöre – wobei mir die Begriffe jetzt egal sind.
Ist das Konzept des Links-Pluralismus gefährdet?   Er ist immer dann gefährdet, wenn eine Gruppe versucht, über die andere zu siegen, um sie zu verdrängen. In diesem Jahr hatte ich gelegentlich den Eindruck, dass es sich so zuspitzen könnte. Nach unserer Fraktionsklausur in Rostock bin ich wieder deutlich optimistischer. Wir werden auch das Parteiprogramm gut beschlossen bekommen und das wird die Erkenntnis festigen: Na klar, wir gehören zusammen.   Die Parteispitze erließ jüngst einen Appell zur Geschlossenheit. Gemeinsames Wollen zu beschwören, daran mangelte es auch bislang nicht – fehlt es daran, dies auch zu organisieren?   Mir geht es nicht um Geschlossenheit. Es gibt unterschiedliche politische Ansätze in unserer Partei, das ist auch in Ordnung. Mich stört manches am Umgang miteinander. Ich mag es nicht, wenn mir ein Genosse sagt, die im Westen seien so radikal, damit erreiche man keinen Menschen, die seien nur auf sich konzentriert. Darin liegt eine Ablehnung, über das nachzudenken, was sie sagen. Und ich mag es umgekehrt nicht, wenn man sagt, viele im Osten seien zu angepasst, zu weich. Auch so lehnt man ein Zuhören ab. Kritik am im Osten organisierten öffentlich geförderten Beschäftigungssektor kann man äußern und erklären, warum man ihn nicht will. Aber die Behauptung, das sei ein Denken wie Hartz IV, beleidigt überflüssigerweise alle, die für ihn eintreten und darin eine Chance für jene sehen, die sonst keine Erwerbsarbeit finden.
Sie setzen auf strömungsübergreifende Einsicht?   Das Wichtigste an einem Menschen ist immer sein Charakter. Wenn jemand einen angenehmen Charakter hat, komme ich mit ihm hin, trotz politischer Differenzen. Wenn der Charakter dagegen nicht stimmt ...   Ist DIE LINKE zu viel Strömungen und zu wenig Partei?   Ich kann dem ND ja nicht alles sagen, was ich auf dem Parteitag sagen will.   Warum eigentlich nicht?   Ich finde es okay, dass wir Strömungen haben. Sie können das Leben in der Partei bereichern, indem unterschiedliche politische Ansätze eingebracht werden. Aber dass aus Strömungen Kaderkommissionen geworden sind, das geht völlig daneben. Ich möchte nicht, dass sich drei Strömungen treffen und sich überlegen, wie die Kandidaten für die Bundestagswahl auf dem Landesparteitag zu mischen sind, dass sie es mithin entscheiden. Denn 90 Prozent unserer Mitglieder sind in keiner Strömung und die haben das eigentlich prägend mitzuentscheiden.   Der Programmparteitag in Erfurt wird nicht völlig am aktuellen Zustand der LINKEN vorbeigehen können. Was erwarten Sie von ihm?   Ich erwarte trotzdem, dass er sich auf das Programm konzentriert. Wir müssen den Bürgerinnen und Bürgern etwas vorlegen, von dem wir gemeinsam sagen können: Da wollen wir hin! Und ich hoffe, dies wird etwas sein, zu dem 90 Prozent unserer Delegierten und Mitglieder Ja sagen können. Wir haben die Frage zu beantworten, was die LINKE im Kern von allen anderen Parteien unterscheidet. Das ist die Frage der Eigentumsgerechtigkeit. Das war historisch immer so. Heute haben wir zusätzlich die Erfahrung aus dem Scheitern des Staatssozialismus zu ziehen. Und deshalb werden wir sagen: Wir wollen private Kleinbetriebe, wir wollen private mittlere Betriebe, es ist wichtig, dass Konkurrenz auf einem Markt herrscht – das erhöht die Qualität, es senkt die Kosten, es führt zur Effizienz, es kann auch Preise senken. Wir werden aber zugleich sagen, in großen Unternehmen soll Schritt für Schritt Miteigentum der Belegschaften entstehen, denn sie schaffen die Werte und brauchen Mitentscheidungsrechte. Und wir werden öffentlich-rechtliches Eigentum bei Banken, den Energieriesen und in der öffentlichen Daseinsvorsorge fordern, damit demokratische Gremien dafür zuständig werden. Das wäre für mich die wichtigste inhaltliche Botschaft von Erfurt.

Neues Deutschland, 1. Oktober 2011