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»Eine warme Mahlzeit pro Tag ist doch selbstverständlich, oder?«

Im Wortlaut von Wolfgang Gehrcke,

Von Wolfgang Gehrcke, Leiter des Arbeitskreises Internationale Politik und Mitglied der Landesgruppe Hessen

 

 

 

Ich sitze in der Kaffeestube Gutleut, ein Restaurant, in dem täglich zwischen 60 und 80 Gäste essen: Obdachlose, Arme, Alleinstehende, Rentnerinnen und Rentner, Menschen aus aller Welt. Die Kaffeestube wird von einer Kirchengemeinde getragen und durch Spenden finanziert. Wer es sich leisten kann, zahlt sein Essen mit 3 Euro; alle anderen bekommen das Essen kostenfrei gegen Gutschein. Ein kurzer Abstecher vom Frankfurter Hauptbahnhof führt in zwei tief verschiedene Welten. Am Mainufer tummeln sich die Hochverdienenden, noble Wohnungen mit eigenen Anlegestegen, und nur Hundert Meter weiter, in der Gutleutstraße und anderen Gassen rund um den Hauptbahnhof übernachten Menschen in Vorgärten und unter Balkonen auf der Straße. Das Unten und Oben hat nichts mehr miteinander zu tun, durch Welten getrennt. Immer mehr ist die ganze Gesellschaft durch Welten getrennt. Wer arm ist, stirbt eher, hat die schlechtere Krankenbehandlung, seine Kinder kommen seltener auf das Gymnasium und auf Universitäten. Und am Stadtviertel, in dem man wohnt, ist bereits ablesbar, welches Einkommen zur Verfügung steht. Ich sitze in der Kaffeestube und denke auch über die Chile-Solidaritätsveranstaltungen der vergangenen Tage, auf denen ich gesprochen habe, nach.

Das Allende-Programm konnte man auf einen Begriff zuspitzen: Jedem Kind an jedem Tag einen halben Liter Milch. Weil Allende das umsetzen wollte, musste er die Kupferindustrie verstaatlichen und den Gewerkschaften mehr Rechte geben. In dem Prospekt, dass mir der Gemeindevorsteher, ein engagierter älterer Herr, in die Hand drückt, lese ich: „Eine warme Mahlzeit pro Tag ist doch selbstverständlich, oder?“ Für die Mehrheit der Gesellschaft schon, für eine wachsende Minderheit aber nicht. Mir wird erzählt, dass der Essenspreis von 3 Euro für das Menü zwar sehr niedrig erscheint, aber viele, die hier her kommen, haben nicht einmal diese drei Euro. Dennoch wird niemand weggeschickt. Und trotzdem bleibt die abgrundtiefe Peinlichkeit, wenn Menschen, die ihr Leben lang gearbeitet haben, sagen müssen: Ich habe das Geld nicht. Wie viele Kinder gehen ohne eine warme Mahlzeit in die Schule, weil es kein kostenloses Schulessen gibt? Die Tauschbörsen und Lebensmitteltafeln sind Ausdruck des Versuchs, zu helfen. Sie können aber weder die soziale noch die politische Antwort sein. Eine soziale und politische Antwort sind Mindestlöhne, Verbot von Leiharbeit und Entfristung von Arbeitsverträgen, höhere Hartz-IV-Sätze – besser noch die Abschaffung von Hartz IV – ebenso wie höhere Steuern für Reiche und Bestverdienende. Die immer tiefer gehende Spaltung der Gesellschaft vernichtet auch demokratische Teilhabe. Auf meine Frage bei Besuchern der Kaffeestube, ob sie zur Wahl gehen werden, höre ich häufig die Antwort: Warum sollten wir? Ja, warum sollten sie? Zumindest die LINKE muss klare Antworten und Alternativen geben: Hartz IV muss weg! Mindestlöhne von wenigstens 10 Euro müssen her! Gemeinschaftsschule für alle, höhere Renten – all das ist finanzierbar! Über solche Antworten diskutieren Menschen, die betroffen sind. Über taktisches Parteiengeplänkel, wer mit wem in welcher Koalition, welche Farbe zu welcher anderen Farbe passt, zuckt dieser Teil unserer Gesellschaft nur verächtlich mit den Schultern. ‚Nicht mein Problem.‘ sagt mir einer. ‚Ich verstehe, dass ihr oft nicht durchkommt, in der Minderheit seid. Von den andern erwarten wir sowieso nichts, aber zumindest solltet ihr so reden, dass man euch versteht.‘ Das sollten wir in der Tat. DIE LINKE schämt sich nicht zu sagen: Wir wollen, dass die Reichen etwas weniger reich sind und die Armen etwas mehr erhalten. Dann wären die Armen noch lange nicht reich und die Reichen noch lange nicht arm. Aber es ginge allen etwas besser.

Dieser Gedanke zündet, zündet ähnlich wie das Versprechen auf einen halben Liter Milch täglich oder die Feststellung: Eine warme Mahlzeit pro Tag ist doch selbstverständlich!

linksfraktion.de, 17. September 2013