Zum Hauptinhalt springen

»Eine moralische Katastrophe«

Im Wortlaut,

Von René Heilig

  64 Fragen zum "Umgang mit der NS-Vergangenheit" hat die Linksfraktion im Bundestag der Regierung zukommen lassen. Die erbat mehrmals eine Fristverlängerung. Nun, nachdem ein Jahr um ist, kam die Antwort auf die Große Anfrage. Man hat sich Mühe gegeben, doch das genügt nicht.   "Mehr als 60 Jahre nach Konstituierung der Bundesrepublik Deutschland und mehr als 65 nach dem Zusammenbruch der NS-Diktatur lässt sich feststellen, dass die nationalsozialistische Gewaltherrschaft generell die am besten erforschte Periode der Geschichte des 20. Jahrhunderts ist", betont die Bundesregierung. "Das mag sein", sagt Jan Korte, der Initiator der Großen Anfrage, "doch was ist mit der Zeit nach 1945? Da wird es dünn!"
  Er hatte nach der personellen und institutionellen Kontinuität zwischen dem Nazireich und der Bundesrepublik gefragt und wurde zunächst einmal nach Schulmeisterart belehrt, dass es die nicht geben könne. Schließlich sei die Bundesrepublik erst vier Jahre nach dem Ende der Nazidiktatur gegründet worden. Wohl aber, so wird bestätigt, war der Anteil an früheren Angehörigen der Behörden des NS-Staates und dementsprechend die Anzahl der Mitgliedschaften in der NSDAP oder ihren Unterorganisationen "hoch". Warum? Nun, es habe in den Anfangsjahren beim öffentlichen Dienst eine "starke Gewichtung des Kriteriums der Verwaltungserfahrung" gegeben.
  Aber was bedeutet schon die Mitgliedschaft in Hitlers NSDAP? "Auch prominente Einzelfälle wie Oskar Schindler oder der Widerständler Ulrich von Hassel manchen anschaulich, dass NSDAP-Mitgliedschaft, für sich genommen, wenig aussagekräftig ist."   Doch es geht eben nicht um Parteigenossen Schindler. Auch nicht um Pg von Hassel. Es geht unter anderem um die in der Antwort aufgeführten 26 Bundesminister und einen Bundeskanzler. Die waren bis 1945 Mitglieder der NSDAP oder anderer NS-Organisationen wie SA, SS oder der Gestapo. Unter ihnen finden sich Namen wie Horst Ehmke, Herbert Ehrenberg, Erhard Eppler, Hermann Höcherl, Kurt-Georg Kiesinger, Walter Scheel, Friedrich Zimmermann und Hans-Dietrich Genscher.
  Deren Mitgliedschaft war - unter anderem Dank der DDR und ihrer Staatssicherheit - schon lange kein Geheimnis mehr. Doch stets hatte es geheißen, viele wären ohne ihr Einverständnis und ohne ihr Wissen in die Nazipartei gepresst worden. Belegen ließen sich immer angeführte "zwangsweise Sammelaufnahmen" nie und inzwischen nimmt die Bundesregierung wohl auch Abstand von solchen Ausreden. Sonst hätte man wohl nicht Minister wie Genscher und Ehmke in die Liste aufgenommen.
  Sicher ist es richtig, dass die NSDAP-Mitgliedschaft alleine nicht genügend über die Verstrickung in das Nazi-Terror-Regime aussagt. Man muss schon tiefer graben. Das überfordert die Bundesregierung, sagt sie. Dank der ins Land gegangen Zeit sowie der vernichteten Personalakten ist eine "belastbare Angabe über den Anteil von NS-belasteten Personen ..., die in Institutionen des Bundes seit 1949 tätig waren", heute "nicht möglich".
  Nicht mehr möglich? Sicher stimmt es, wenn die Regierung behauptet, dass die Auswertung von noch vorhandenen Akten aufwendig ist. Im Bundesarchiv muss man "pro Person durchschnittlich 30 bis 60 Minuten" ansetzen und "ein bloßer Namensabgleich mit der NSDAP-Mitgliederpartei des Berlin Document Center" erfordert rund 15 Minuten. Aber ist das eine Entschuldigung für Untätigkeit?
  Die hat andere Ursachen. Man kann sie ahnen, wenn man sich die Auflistung von Kündigungen anschaut, die aufgrund von NS-Belastung vorgenommen wurden. Im Auswärtigen Amt, in dessen höherem Dienst 1952 noch etwa 34 Prozent NSDAP-Mitglieder tätig waren, wurden drei Beamte aufgrund ihrer Vergangenheit im Dritten Reich rausgeworfen. Im Bundesjustizministerium kündigte man einem alten Nazi. Im BND trennte man sich in den 60er Jahren von 71 Mitarbeitern. Es blieben - wie man weiß - genügend "alte Kameraden". So wie im Verfassungsschutz.
  Statt gründliche Säuberungen anzuordnen, nahm man in den 50er Jahren umso mehr erfahrene Beamte in den öffentlichen Dienst auf, die zuvor aufgrund ihrer Tätigkeit im NS-Staat entlassen worden waren. Grundlage war der sogenannte "131er Artikel". Er korrigierte das Grundgesetz und gestattete, dass sogenannte Minderbelastete wieder beamtet werden durften. Bis zum 31. März 1955 waren so 77,4 Prozent der Besetzungen im Verteidigungsministerium "131er". Im Wirtschaftsministerium kam man auf 68,3 Prozent und beim Presse- und Informationsamt der Bundesregierung lassen sich 58,1 Prozent Alt-Nazis nachweisen.   Korte und Genossen hatten auch das Thema DDR angesprochen. Die Antworten der Bundesregierung zum Umgang des anderen deutschen Staates mit seinen Nazis ist durchaus erhellend. Wenngleich sehr oberflächlich. Entlarvend dagegen die Antwort zum Thema Entschädigungen. Gefragt wurde nach den vor allem im Ausland geforderten Wiedergutmachungsleistungen für italienische Militärinternierte und nichtjüdische NS-Opfer in Osteuropa. Die offizielle Antwort ist so knapp wie bestimmt: "Es besteht keine Veranlassung für die Bundesregierung, über eine Entschädigung nachzudenken."
  Mit dieser Position will sich die Linksfraktion nicht zufrieden geben. Gleiches gilt für die NS-Aufarbeitung der "Institution Bundestag", zu der sich die Bundesregierung nicht äußern wollte. So interessant die Antworten zur Großen Anfrage der Linksfraktion im Einzelnen auch sein mögen: Grundsätzlich kann man - je nach Standpunkt - zweierlei herauslesen. Während die Bundesregierung versucht, die Aufarbeitung der eigenen NS-Vergangenheit als Erfolg und Vorbild für den Umgang mit staatlichen Verbrechen überall auf der Welt abzurechnen, spricht Jan Korte schnörkellos "von einer beispiellosen moralischen Katastrophe".    Neues Deutschland, 28. Dezember 2011