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"Eine linke Mehrheit gibt es nur auf dem Papier"

Im Wortlaut von Oskar Lafontaine,

Linkspartei-Fraktionschef Oskar Lafontaine kritisiert die neoliberale Politik der SPD

Herr Lafontaine, wie haben Sie die ersten Wochen mit der Linksfraktion im Bundestag erlebt - werden Sie ernst genommen oder eher wie die Schmuddelkinder behandelt?

Die bisherigen Bundestagsparteien sind mit einer Fraktion konfrontiert, die gegen völkerrechtswidrige Kriege und gegen Sozialabbau ist. Das fordert sie heraus, darüber sind sie nicht erfreut. Die Reaktionen fallen unterschiedlich aus.

Können die so unterschiedlichen Parteien Linke, FDP und Grüne ihre gemeinsame Rolle als Opposition überhaupt wahrnehmen?

Die in der Verfassung garantierten Rechte der Opposition wie die Normenkontrollklage oder die Erzwingung einer Bundestagssitzung sind für den Fall der großen Koalition unzureichend. Jede Fraktion, auch eine kleine, sollte das Recht haben, diese Mittel einzusetzen.

In Ihrer Partei, der WASG, gibt es derzeit Diskussionen über die Frage Regierungsbeteiligung oder nicht.Wie ist Ihre Position - muss die Linke in absehbarer Zeit regierungsbereit und regierungsfähig sein?

Wenn wir dadurch beispielsweise die Chance haben, die Privatisierung wichtiger kommunaler Dienstleistungen zu verhindern, müssen wir diese Möglichkeit nutzen.

Also Ja zur Regierungsbeteiligung, wenn die Bedingungen stimmen?

Ja, aber darauf kommt es an. Für den Bund bedeutet das: Nein zu völkerrechtswidrigen Kriegen, Abkehr von Agenda 2010 und Hartz IV und Hinwendung zu einer Wirtschafts- und Finanzpolitik, die zu mehr Wachstum und Beschäftigung führt.

Und das ist mehrheitsfähig in Ihrer Partei?

Es gibt in beiden Parteien Mitglieder, die einer Regierungsbeteiligung kritisch bis ablehnend gegenüber stehen. Die Mehrheit in beiden Parteien ist aber der Auffassung: Wenn ich Politik im Interesse von Arbeitnehmern und Rentnern machen kann, muss ich es tun.

Die Linkspartei hat die Doppelmitgliedschaft für WASG-Mitglieder ermöglicht. Treten Sie ein?

Ja.

Auf dem PDS-Parteitag in Dresden spielte die Frage der einstigen Stasi-Mitarbeit führender Funktionäre eine Rolle. Hat die Linkspartei noch Nachholbedarf bei der Aufarbeitung?

Die Stasi-Frage ist nicht nur ein Thema der Linkspartei. Ich erinnere an die Blockparteien und auch einige Fälle in der SPD. Aber die Linkspartei ist auf Grund ihrer Geschichte besonders damit konfrontiert. Es muss klar sein: Ehemalige Stasi-Mitarbeiter, die durch Denunziation anderen geschadet haben, können keine öffentlichen oder Partei-Ämter bekleiden.

Haben Sie in der SPD-Fraktion schon Abgeordnete entdeckt, die Ihnen politisch näher stehen als der Politik der großen Koalition?

Leider sind die meisten SPD-Abgeordneten der neoliberalen Politik dieser Regierung verpflichtet. Schon die Sprache zeigt das. Wer das Geld, das für Kranke, Rentner, Arbeitslose, Pflegebedürftige ausgegeben wird, Lohnnebenkosten nennt, ist schon nicht mehr in der Lage, sozialdemokratische oder linke Politik zu machen. Wer völkerrechtswidrige Kriege "enduring freedom" nennt, kann nie zugehört haben, wenn Willy Brandt über Frieden und Freiheit gesprochen hat.

Sehen Sie einen qualitativen Unterschied, zwischen dem, was die große Koalition macht, und dem, was Rot-Grün vorher gemacht hat?

Kaum. Das zeigt sich am deutlichsten in der Außenpolitik. Keine der beteiligten Parteien ist in der Lage zu sagen, was Terrorismus ist. Sie kämpfen gegen den Terrorismus, wissen ihn aber nicht zu definieren. Für die Linke ist Terrorismus das Töten unschuldiger Menschen zum Erreichen politischer Ziele. Für die anderen Bundestagsparteien ist ein Terrorist, wen die Amerikaner für einen Terroristen halten.

Was ist Ihre Prognose: Wie wird die SPD sich in der großen Koalition entwickeln?

2007 wird sie durch die törichte Mehrwertsteuererhöhung von drei Prozent bei stagnierenden oder sinkenden Löhnen mit der Wirklichkeit konfrontiert werden.

Wird das der Linken in der SPD neuen Auftrieb geben und zu einer Annäherung an Ihre Positionen führen?

Diese Hoffnung hatte ich jahrelang. Aber spätestens seit der Enteignung älterer Arbeitnehmer durch Hartz IV habe ich diese Hoffnung verloren. Aber ich lasse mich auch immer wieder gern überraschen. Derzeit gibt es eine linke Mehrheit nur auf dem Papier. Ob das 2009 anders sein wird, lässt sich jetzt noch nicht sagen. Heute sind über 90 Prozent der Bundestagsabgeordneten für Sozialabbau und völkerrechtswidrige Kriege und für eine Wirtschafts- und Finanzpolitik, die den Binnenmarkt stranguliert.

Dennoch melden die Wirtschaftsinstitute einen Aufschwung für das kommende Jahr.

Zum Jahresende sind die Prognosen der Institute immer optimistisch. Im Laufe des Jahres holt sie dann die Realität ein.

Es gibt also keinen Merkel-Aufschwung?

Ich sehe nur einen Aufschwung für Frau Merkel. Sie ist jetzt Kanzlerin. Die Arbeitslosen haben davon nichts.

Das Gespräch führte Holger Schmale.

Berliner Zeitung, 28. Dezember 2005