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»Eine Lawine, die aus Liebe und dem Volk besteht«

Im Wortlaut von Sahra Wagenknecht,

© UN Photo/Paulo Filgueiras

 

Sahra Wagenknecht, Erste stellvertretende Vorsitzende der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag, über ihre erste Begegnung mit Hugo Chávez vor zehn Jahren und dessen politisches Erbe

 

Sie haben Hugo Chávez im Oktober 2003 das erste Mal getroffen. Was war Ihr erster Eindruck von ihm?

Sahra Wagenknecht: Ich war zu Gast in der Sendung "Aló Presidente" und zunächst einmal sehr überrascht, weil er so gar nichts Staatsmännisches an sich hatte und viel schmaler und schlanker aussah als auf den Fotos, die ich von ihm kannte. Seine Augen strahlten Wärme und Humor aus. Und er begann auch sofort, mit den Leuten im Publikum zu scherzen. Man konnte richtig spüren, wie eine Welle von Sympathie von ihm ausging und von den Menschen im Publikum wieder zu ihm zurück schwappte.

Aber Chávez war ja nicht nur beliebt, sondern bei vielen auch verhasst. Bis heute gilt er einigen als Autokrat und Diktator.

Diese Lüge ist so unverschämt wie dumm. Ich kenne kaum einen anderen Staatschef, der viermal hintereinander mit derart überzeugenden Mehrheiten gewählt worden ist. Die venezolanische Bevölkerung hat sich selbst eine Verfassung gegeben, die eine Basisdemokratie erlaubt, von der wir hier nur träumen können. So liegt ein großer Teil der politischen Macht in der Hand von kommunalen Räten und Nachbarschaftsversammlungen. Bei allen wichtigen Themen sind Volksentscheide vorgesehen, die Arbeitermitverwaltung wurde ausgebaut und es ist der venezolanischen Bevölkerung sogar möglich, den gewählten Präsidenten nach der Hälfte seiner Amtszeit abzuberufen.

Trotzdem hat Chávez für den Prozess der bolivarischen Revolution eine entscheidende Rolle gespielt. Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Ergebnisse dieser Revolution?

Dass der Ölreichtum nicht länger ins Ausland und in die Hände einer korrupten Elite fließt, sondern der armen Bevölkerung zugute kommt. Dass medizinische Versorgung und Bildung keine Privilegien der Reichen mehr sind. Doch ebenso wichtig wie die Verbesserung der Lebensverhältnisse ist die Veränderung der gesamten Kultur des Landes. Die bolivarische Revolution hat Millionen Menschen eine Stimme, Würde und Selbstbewusstsein gegeben. Menschen, die von wichtiger Infrastruktur und Bildung ausgeschlossen waren, die von der Politik nicht beachtet und von einer überwiegend rassistischen Oberschicht wie Dreck behandelt wurden, haben die Resignation abgestreift und ihr Schicksal in die eigenen Hände genommen. Der Slogan "Wir alle sind Chávez" verkörpert, dass einfache Menschen sich zu Subjekten des politischen Prozesses aufschwingen. Und dieser Prozess hatte enorme Ausstrahlungskraft: In ganz Lateinamerika ist ein neues Selbstbewusstsein entstanden. Man will nicht länger der schmutzige Hinterhof der USA und anderer Großmächte sein. Das Erbe der bolivarischen Revolution ist eine neue Souveränität der lateinamerikanischen Staaten, das Erbe sind solidarische Beziehungen zwischen diesen Staaten. ALBA, Petrosur und ähnliche Initiativen haben gezeigt, dass ein anderes Wirtschaftsmodell möglich ist. Auch wenn Venezuela vom Sozialismus noch weit entfernt ist: Chávez Ziel eines "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" bleibt aktuell.

Ist die bolivarische Revolution durch den Tod von Chávez nicht extrem gefährdet? Kann man überhaupt von einem dauerhaften Erbe sprechen?

Natürlich werden es die Nachfolger von Chávez schwer haben, da sie nicht über das selbe Charisma und die selbe Autorität verfügen. Und natürlich wird die alte Oligarchie zusammen mit westlichen Staaten und Konzernen alles versuchen, um sich den Ölreichtum des Landes wieder unter den Nagel zu reißen. Wir wissen auch, dass diese alte Oligarchie und ihre Verbündeten vor Gewalt, Putschversuchen und politischen Morden nicht zurückschrecken. Trotzdem denke ich, dass sich das Rad der Geschichte nicht einfach zurückdrehen lässt. Immerhin hat der Prozess, der in Venezuela begann, inzwischen ganz Lateinamerika erfasst. Um Rafael Correa zu zitieren, der im Februar 2013 mit knapp 57 Prozent der Stimmen als Präsident von Ecuador wiedergewählt wurde: "Wir haben einen Revolutionär verloren, aber Millionen von uns bleiben inspiriert." Ich könnte auch zitieren, was Hugo Chávez uns vor zehn Jahren in einem Interview gesagt hat: "Es gibt ja Leute, die sagen, dass das ganze Projekt den Bach runtergeht, wenn ich mal nicht mehr bin. Aber das stimmt nicht. Aus mir sind Millionen geworden ... Dieser Prozess ist eine Lawine, die aus Liebe und dem Volk besteht."

linksfraktion.de, 8. März 2013