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Diskriminierende Arbeitshilfe der Bundesagentur für Arbeit

Im Wortlaut von Matthias W. Birkwald, Katja Kipping, Sabine Zimmermann,

Offener Brief als PDF


Sehr geehrter Herr Bundesminister Hubertus Heil,

die Gemeinnützige Gesellschaft zur Unterstützung Asylsuchender e.V. (GGUA Flüchtlingshilfe), Tacheles e.V. sowie eine Vielzahl von mitzeichnenden Vereinen und Bündnissen haben in einem Schreiben an das BMAS vom 9. November 2020 auf die zunehmende Diskriminierung Leistungsberechtigter aus EU-Staaten durch die Jobcenter hingewiesen. Die Beantragung von Leistungen durch EU-Bürger*innen nichtdeutscher Herkunft werde zunehmend unberechtigt abgelehnt oder erheblich erschwert. Diese Ungleichbehandlungen aufgrund von Staatsangehörigkeit seien zudem zunehmend strukturell angelegt. Als wesentliche Ursache für die diskriminierende Praxis sehen die Verfasser*innen die interne Arbeitshilfe der Bundesagentur für Arbeit (BA) „Bekämpfung von bandenmäßigem Leistungsmissbrauch im spezifischen Zusammenhang mit der EU-Freizügigkeit“. Die Arbeitshilfe sehe vor, dass betroffene Leistungsberechtigte eine Vielzahl von Prüfkriterien zu erfüllen haben, die faktisch aber kaum zu erfüllen seien. Die Verfasser*innen fordern daher die bisher nicht veröffentlichte Arbeitshilfe zurückzunehmen und die diskriminierende Praxis der Jobcenter sofort zu beenden.

EU-Bürger*innen, die von ihrer Freizügigkeit Gebrauch machen und in Deutschland leben, arbeiten besonders häufig in prekären oder sogar ausbeuterischen Beschäftigungsverhältnissen. Viele der Betroffenen befinden sich trotz Erwerbsarbeit in einer schwierigen sozialen und ökonomischen Lage. Ihre Beschäftigungsverhältnisse zeichnen sich durch starke Abhängigkeitsverhältnisse gegenüber ihren Arbeitgeber*innen aus. Hinzu kommen Sprachbarrieren und bürokratische Hürden. Obwohl die gezahlten Löhne oft nicht reichen, um für sich und seine oder ihre Familie den nötigen Lebensunterhalt zu bestreiten, werden durch die Arbeitshilfe der BA Menschen an der Inanspruchnahme von rechtmäßigen SGB II-Leistungsansprüchen gehindert. Stattdessen werden die EU-angehörigen Arbeiternehmer*innen unter Generalverdacht (der Bandenkriminalität) gestellt. Aus Opfern der Arbeitsausbeutung werden so Täter*innen gemacht. In der Folge wird bei vielen Betroffenen das menschenwürdige Existenzminimum unterschritten. Die soziale Folge ist ein Leben am Rand der Gesellschaft. Für alle Betroffenen, insbesondere für besonders schutzbedürftige Gruppen, wie Familien, Alleinerziehende oder Menschen mit Behinderungen, ist diese Praxis nicht hinnehmbar. Zudem werden so zentrale Prinzipien der europäischen Integration, wie das Diskriminierungsverbot und die Arbeitnehmer*innenfreizügigkeit, missachtet und mit Füßen getreten.

Daher unterstützen wir das Anliegen der GGUA Flüchtlingshilfe und Tacheles e.V. ausdrücklich und fordern Sie als Bundesminister für Arbeit und Soziales deshalb höflich, aber nachdrücklich auf,

• darauf hinzuwirken, dass die genannte interne Arbeitshilfe der BA zurückgenommen werden möge. Sollte dies nicht geschehen, muss die Arbeitshilfe zeitnah veröffentlicht werden, um Vorwürfe und Kritik nachvollziehen zu können,

• sicherzustellen, dass diskriminierende Praktiken der Jobcenter gegenüber EU-Bürger*innen eingestellt und untersucht werden,

• Vorsorge zu treffen, dass es in der Praxis der Jobcenter zu keiner unzulässigen oder ungerechtfertigten differenzierenden Behandlung von Antragsstellenden aufgrund von Staatsangehörigkeit oder ethnischer Herkunft kommt,

• sowie sich dafür einzusetzen, dass allen EU-Bürger*innen ihr zustehendes Recht gewährt wird – tatsächliche oder vermeintliche Missbrauchsfälle im Einzelnen dürfen nicht dazu führen, dass ganze Gruppen pauschal verdächtigt und/oder ihr Zugang zu Leistungen erschwert oder gar verhindert wird und

• die Leistungsausschlüsse für Unionsbürger*innen im SGB II und XII, die zu Verelendung und Schutzlosigkeit der Betroffenen führen, zu streichen. Die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums darf nicht von der Staatsangehörigkeit oder dem Aufenthaltsstatus abhängig gemacht werden.

Für Ihre wohlwollende Prüfung danken wir Ihnen vielmals vorab.

 

Mit freundlichen Grüßen

Matthias W. Birkwald, MdB

Katja Kipping, MdB

Sabine Zimmermann, MdB