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Digitalisierung: Humanisierung der Arbeitswelt oder Deregulierung 4.0?

Im Wortlaut von Klaus Ernst,

 

Von Klaus Ernst, stellvertretender Vorsitzender der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag

 

Die Arbeitgeberverbände versuchen unter dem Deckmantel der Digitalisierung eine umfangreiche Deregulierung von Arbeitnehmerrechten durchzusetzen. Nur mit starken politischen Leitplanken kann sich die Digitalisierung auch zum Vorteil der Beschäftigten auswirken. Die zentrale Frage ist: Wer profitiert von der Digitalisierung, allein die Unternehmen oder auch die Gesellschaft?

Industrielle Produktion und Automatisierung gehen seit jeher Hand in Hand. Der Begriff "Industrie 4.0" selbst will die "vierte industrielle Revolution" bezeichnen, darauf hinweisend, dass es bereits drei große Automatisierungswellen in der Vergangenheit gab. In der letzten Welle, in den 1970er Jahren, wurde, wie heute, befürchtet, Roboter würde den Produktionsarbeitenden arbeitslos zurücklassen – was nicht in dem Umfang geschah, wie es prophezeit wurde. Zwar gingen an den Fließbändern durchaus Jobs verloren, im gleichen Zug jedoch entstanden an anderer Stelle neue Aufgaben. Auch jetzt steht quasi außer Frage, dass auch in Zukunft Menschen in den industriellen Wertschöpfungsketten arbeiten werden. Die Fragen, die sich stellen, sind vielmehr: In welcher Form werden Beschäftigte an die Produktionsprozesse angebunden sein? Welche Rechte haben sie, den digitalen Wandel im Betrieb mitzubestimmen? Und vor allem: Wer wird am Ende von dem Produktivitätszuwachs profitieren?

Entgrenzte Arbeitszeiten, ruinöse Selbstausbeutung

Die Digitalisierung kann, wenn sie sinnvoll gestaltet wird, zu Entlastung, einem höheren Grad an Selbstbestimmung und mehr Arbeits- und Lebensqualität für die Beschäftigten führen. Dafür braucht es klare gesetzliche Leitplanken. Denn Unternehmen haben nur in dem Maße Interesse an einer Humanisierung der Arbeitswelt, wie sie ihren eigenen ökonomischen Interessen nützt. So geht es bei dem inflationär gebrauchten Schlagwort der "Flexibilisierung von Arbeitszeit" weniger darum, den Beschäftigten mehr Raum für Persönlichkeitsentwicklung und Selbstverwirklichung zu schaffen, sondern vor allem darum, dass diese jederzeit und von überall aus dem Unternehmen mit ihrer Arbeitskraft zur Verfügung stehen. Klangschöne Modelle wie "Vertrauensarbeitszeit" versprechen mehr Work-Life-Balance für die Beschäftigten, führen aber in vielen Fällen nachweisbar zu Mehrarbeit bis hin zur ruinösen Selbstausbeutung. Die Auswirkungen dieser Entwicklung sind schon jetzt erkennbar: Die Stressbelastung von Beschäftigten nimmt quer durch alle Branchen zu. Beschäftigte klagen zunehmend über entgrenzte Arbeitszeiten, Arbeitsverdichtung, Zeit- und Leistungsdruck. Der Anstieg der Arbeitsunfähigkeitstagen auf Grund psychischer Erkrankungen ist alarmierend.

Und dennoch fällt kaum ein Begriff im Rahmen der Digitalisierungsdebatte so häufig wie der Begriff "Flexibilisierung". Und das hat einen Grund. Denn unter dem Deckmantel der anstehenden Digitalisierungswelle wird ein altes Ansinnen der Arbeitgeberseite neu aufgelegt: Der Forderung nach radikaler Deregulierung von Arbeitnehmerrechten. Das erklärt auch die Intensität der Debatte. Würde man der Industrie- und Arbeitgeberlobby Glauben schenken will, dann entscheidet sich in der Frage von Industrie 4.0 das ökonomische Schicksal der gesamten Bundesrepublik. Da ist von "großen Chancen" (Positionspapier BDA) und "enormen Wachstumspotenzialen" die Rede; von nicht weniger als einem "digitalen Wirtschaftswunder" (Joe Kaeser 2015). In dem Moment jedoch, in dem Industrie 4.0 zur "Schicksalsfrage der deutschen Industrie" erhoben wird, wird quasi ein neues Alternativlos-Narrativ erschaffen. Versteckt hinter ihren leidenschaftslosen, ökonomisierten Worthülsen der "Wachstumspotenziale" und "Standortsicherungen" formieren sich die Arbeitgeberverbände zum Frontalangriff auf die Arbeitnehmerrechte. Die Stellungnahme der BDA zeigt, in welcher Weise der Begriff "Digitalisierung" als Hebel eingesetzt werden soll, um eine umfangreiche Deregulierung von Arbeitnehmerrechten durchzusetzen. So fordert die BDA nicht nur die Ausweitung von Wochenend- und Feiertagsarbeit, sondern auch die Abschaffung der gesetzlich geregelten Höchstarbeitszeit und Ruhezeiten. Stattdessen drängt die BDA auf die Umstellung auf eine Wochenhöchstarbeitszeit. Gesetzliche Regelungen zur Arbeitszeiterfassung werden als überflüssig betrachtet. Durch eine Reform von §12 des Teilzeit- und Befristungsgesetzes sollen Beschäftigte kurzfristig und auch von Zuhause aus nach Bedarf des Unternehmens eingesetzt und abgerufen werden können. Einen Bedarf an Regelungen zur Stressvermeidung oder Einschränkung der Erreichbarkeit sehen die Arbeitgeberverbände nicht. Diese Vision einer hochflexiblen Arbeitswelt richtet sich gegen die Interessen der Beschäftigten nach planbarer, begrenzter und geregelter Arbeit und degradiert sie zu beliebig einsetzbaren Bausteinen innerhalb eines hocheffizienten Produktionsprozesses.

Breite Diskussion über die Begrenzung der Höchstarbeitszeit notwendig

Es ist unbestritten, dass die Digitalisierung gerade dem produzierenden Gewerbe und der Logistikbranchen effizientere Betriebsprozesse ermöglicht. Durch den Einsatz von Cyber-Intelligenten-Systemen werden Produktionsabläufe optimiert und individualisierbar gemacht. Neue Produkte werden auf den Markt drängen und neue Dienstleistungen an diese Prozesse angeschlossen sein. Im Ergebnis ist eine weitere Steigerung der Produktivität und der Wertschöpfung zu erwarten. Die entscheidende Frage ist, wem dieses Wachstum zugutekommen wird: Allein der Unternehmen oder auch der Gesellschaft? Eine breite Diskussion über die Begrenzung der Höchstarbeitszeit und Umverteilung von Arbeitszeit ist unerlässlich. Nur so kann das Versprechen der Digitalisierung, den Menschen mehr Raum für sich selbst zu schaffen, Wirklichkeit werden.

linksfraktion.de, 13. Juni 2016