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Dietmar Bartsch © Alexander GonschiorFoto: Alexander Gonschior

Dietmar Bartsch zur Impfpolitik: »Die Kanzlerin negiert die Fakten«

Im Wortlaut von Dietmar Bartsch,

Statt Verantwortung für das derzeitige Impfdebakel zu übernehmen, wird Verantwortung abgelehnt. Ein Einspruch gegen das Weitermachen wie bisher. Gastbeitrag in der Berliner Zeitung von Dietmar Bartsch, Vorsitzender der Fraktion DIE LINKE.


Menschen machen Fehler. Das macht sie menschlich. Menschliche Stärke ist es, Fehler einzugestehen. Davon sind Angela Merkel, Jens Spahn oder Ursula von der Leyen jedoch kilometerweit entfernt. Statt Verantwortung für das derzeitige Impfdebakel zu übernehmen, wird Verantwortung negiert. Schuld sind wahlweise die Hersteller der Impfstoffe oder die Umstände. Nach dem Motto: Israel impft so schnell, weil das Land so klein ist und die USA, weil das Land so groß ist.

Wenn Angela Merkel in der ARD sagt: „Im Großen und Ganzen ist nichts schiefgelaufen“, negiert sie schlicht Fakten. Die EU hat zu spät, zu geizig, zu wenig Impfstoff bestellt. Ursula von der Leyen kann Verträge in Europa offensichtlich so wenig, wie als Verteidigungsministerin – da stand am Ende ein Untersuchungsausschuss. Gegen das Impftempo der USA, Israels, Großbritanniens oder der Emirate ist für die EU gerade nichts zu holen – ein Klassenunterschied.

Und Deutschland? Steht bei den Impfungen pro 100 Einwohner hinter Rumänien, Litauen, der Türkei oder auch Frankreich und Spanien. „Nichts schiefgelaufen“ ist schlicht Schönfärberei aus dem Kanzleramt. So verspielt Politik das wichtigste Gut in der Krise: das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger im Land. Dass die Infektionszahlen sinken, ist ein Erfolg der Menschen im Land.

Wir werden wegen des miserablen Impfstarts vermutlich länger mit einschneidenden Maßnahmen leben müssen als andere Länder. Auch deshalb müssen wir stärker als in den letzten Monaten lernen, mit dem Virus zu leben. Wenn die Infektionszahlen wie in den vergangenen Wochen weiter sinken, muss nach dem aktuellen Lockdown Licht am Ende des Tunnels sichtbar werden, ein Stufenplan aus dem Lockdown weisen. Kitas und Schulen sollten bei entsprechenden Inzidenzzahlen behutsam und über die Notbetreuung hinaus öffnen. Eine Fortsetzung der Isolation ist für Kinder und Familien kaum länger durchzuhalten. Schulen und Kitas sind für Kinder in der Tat systemrelevant, wie Hendrik Jünger, Chefarzt der Kinderklinik in Kempten, kürzlich in der SZ schrieb. Zu stark sind die sozialen und psychischen Folgen, die immer stärker sichtbar werden. In einer Pandemie macht nicht nur das Virus krank.

Wir sollten umsichtig sein und nicht leichtsinnig werden. Aber Kitas und Schulen müssen der Anfang sein. Weitermachen wie in den vergangenen Monaten – bis die Bundesregierung genug Impfstoff für alle im Land beschafft hat – können wir nicht. Dann ist nämlich auch ohne Mutationen schon wieder Herbst.