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»Die zwölf toten Zivilisten sind kein Unfall, sondern die Normalität des Krieges«

Im Wortlaut von Jan van Aken,

Jan van Aken, der letzte Woche in Afghanistan war, bezweifelt im Interview im Deutschlandfunk, dass die erneute Offensive in Afghanistan für mehr Sicherheit sorgen wird.

Herr van Aken, glauben Sie, dass die Operation Mushtarak für mehr Sicherheit im umkämpften Süden Afghanistans sorgen wird?

Ich kann mir das nicht vorstellen. Ich hatte eben den Eindruck, dass wir den gleichen Bericht wahrscheinlich schon vor einem Jahr, vor zwei Jahren und vor drei Jahren hätten hören können, denn das ist ja so erstmal keine neue Strategie. Das ist nicht neu und, ehrlich gesagt, ist es auch keine Strategie, mit vielen Soldaten in ein Gebiet reinzugehen. Taliban findet man dann kaum noch dort und wenn dann irgendwann die ausländischen Soldaten abziehen, werden die Taliban dort genau so weitermachen wie vorher auch.

Die Soldaten haben Material zum Bombenbau und auch Waffenverstecke aufgespürt: Glauben sie, dass die Taliban die auch auf höfliches Bitten herausgegeben hätten?

Ganz sicher nicht. Nur, indem Sie ein paar Waffenlager ausheben, indem Sie wahrscheinlich auch zwei, drei, vier Dutzend Taliban in der Region töten, werden Sie natürlich die Provinz nicht befrieden - im Gegenteil. Die zwölf toten Zivilisten sind ja kein Unfall, sondern das ist die Normalität des Krieges und mit jedem toten Zivilisten werden Sie wieder Dutzende von jungen Afghanen haben, die dann zu den Taliban überlaufen. Das heißt, am Ende werden die Taliban wahrscheinlich stärker sein als vorher.

Wo soll denn der zivile Aufbau stattfinden und wie soll der erfolgreich sein, wo - und diese Distrikte gibt es ja - die Taliban das Gebiet kontrollieren?

Ich war ja vor ein paar Tagen selber in Afghanistan. Wir haben dort auch mit Entwicklungshelfern gesprochen und das Spannende war, dass es im Prinzip zwei völlig unterschiedliche Aufbaukonzepte gibt. Das eine ist: wir haben ein, zwei Aufbauhelfer, die mit Dutzenden schwerbewaffeten Soldaten in die Provinz fahren. Und dann natürlich beschossen werden, dann gibt es Gefechte und dann gibt es vielleicht auch noch ein Gespräch mit dem Dorfältesten.

Und das andere Modell, das haben uns die Kollegen von der GTZ, der staatlichen deutschen Entwicklungshilfe gesagt: Die können, wenn sie ohne Soldaten in eine Provinz gehen, sich vorher schlau machen - wer schießt dort eigentlich auf wen und warum schießen die aufeinander, welche Interessen gibt es und wenn Sie das miteinbeziehen, dann haben Sie in verschiedenen schwer umkämpften Provinzen tatsächlich langfristige Aufbauprojekte. Aber immer nur unter der Bedingung, dass Sie keine Soldaten mitnehmen.

Im kommenden Sommer will US-Präsident Obama ja schon mit dem Truppenabzug anfangen. Das heißt, dass die Menschen in Afghanistan voller Vorfreude auf diesen Abzug sein müssten.

Naja. Das ist ein Datum, wo er gesagt hat: Er fängt an, die Soldaten abzuziehen und hat natürlich offen gelassen, wie lange das dauert wird. Ich bin mir nicht sicher, ob da tatsächlich ein Abzug stattfinden wird. Es wird ja auch in Deutschland seit Wochen und Monaten von Abzugsperspektive und neuer Strategie geredet. Und wenn wir jetzt sehen, was passiert, ist das genau das Gleiche, was seit Jahren passiert, nämlich einfach noch mehr Soldaten, noch mehr Krieg rein in die Provinzen. Ich glaube nicht, dass die Afghanen im Moment tatsächlich voller Vorfreude ins nächste Jahr blicken, wenn die Situation vor Ort, wie wir sie erlebt haben, ist katastrophal.

Und es gibt ja viele Menschen in Afghanistan, die die Sorge umtreibt, dass wenn die ausländischen Truppen abziehen, die Taliban wieder die Kontrolle übernehmen, was, wenn Sie an das Jahr 2001 und davor zurückdenken, natürlich kein besonders erfreulicher Gedanke ist. Ist deren Sorge denn unberechtigt?

Die Sorge kann ich eigentlich nicht feststellen vor Ort. Es haben sich ja die Kräfteverhältnisse verändert. Das sagen auch viele. Wir haben auch mit dem Vizepräsidenten des Parlamentes gesprochen. Der hat gesagt: Mehr Soldaten bringen nur mehr Probleme. Ich glaube, die Situation wird dann so sein, dass die Taliban und die Karzai-Regierung und alle relevanten Kräfte dann zusammen an der Regierung beteiligt sein werden, aber es wird natürlich niemals wieder ein reines Taliban-Regime wie 2001 geben. Dafür, denke ich, ist Afghanistan mittlerweile zu gefestigt.

Aber was macht Sie da so zuversichtlich, dass diese - was ja eine Kompromisslösung wäre - im Jahr 2010 durchsetzbar sein könnte? Was in den vergangenen neun Jahren nicht möglich war.

Der Unterschied ist, dass jetzt endlich verhandelt wird. Das wird hier in Deutschland kaum wahrgenommen, aber die afghanische Regierung verhandelt im Moment mit den Talibanführern und ich denke, es wird eine Friedenslösung geben können. Wenn sie nicht wieder torpediert wird von außen. Bis vor einem Jahr ist diese Verhandlung ja von der amerikanischen Regierung besonders abgelehnt worden. Deswegen konnte sie eigentlich nur heimlich stattfinden. Jetzt gibt es offen Unterstützung und das erwarte ich eigentlich auch von der Bundesregierung, dass solche Friedensverhandlungen, die im Moment laufen, massiv unterstützt werden, damit es eine friedliche Lösung vor Ort gibt.

Stimmt der Satz der EKD-Vorsitzenden Margot Käßmann, nichts sei gut in Afghanistan?

Er stimmt natürlich, wenn man ihn nicht wörtlich nimmt. Natürlich gibt es auch schöne Tage, Minuten und schöne Situationen in Afghanistan. Aber so ist es ja nicht gemeint. Ich glaube, Frau Käßmann hat damit gemeint, dass nach acht Jahren Krieg die Situation in Afghanistan so unendlich viel schlechter geworden ist. Der Hunger vor Ort ist wirklich kaum noch zu ertragen, so wie wir das mitbekommen haben, und wir werden mit mehr Soldaten und mehr Waffen diese Situation nicht verbessern. Das meinte der Satz wahrscheinlich "Nichts ist gut in Afghanistan" und alles wird besser, wenn weniger Soldaten und weniger Waffen ins Land kommen.

Also die Situation ist jetzt auch schlechter als unter den Taliban, als massive Menschenrechtsverstöße an der Tagesordnung waren?

Es kommt immer drauf an, wie Sie besser und schlechter definieren. Ich glaube, von der Menschenrechtssituation ist die Situation natürlich besser geworden für viele, für einige ist sie auch schlechter geworden. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Amerikaner ja dort auch eines ihrer Gefängnisse haben, wo nicht mal Rotes Kreuz rein darf. Da sprechen im Moment viele Afghanen von Menschenrechtsverletzungen. Aber natürlich ist es für viele, insbesondere für die Frauen in den letzten Jahren besser geworden.

Nur jetzt immer zu behaupten, sobald die ausländischen Truppen abziehen, wird es wieder schlechter: das ist, glaube ich, falsch. Wir werden es auch in der jetzt umkämpften Provinz Helmand sehen: in dem Moment wo die ausländischen Truppen in 30, 40, 50 Tagen wieder raus gehen, ist die Situation ja genau die gleiche wie vorher - das die Taliban in der Provinz das Sagen haben und das heißt aber nicht, dass nicht dort auch Schulen geöffnet werden, dass die Kinder nicht zur Schule gehen und sogar die Mädchen auch zur Schule gehen können, mitten im Taliban-Gebiet.

Interview: Sandra Schulz

Deutschlandfunk, 15. Februar 2010