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Passanten laufen in Wolmirstedt (Sachsen-Anhalt) an einem Straßenschild mit der Aufschrift »Straße der deutschen Einheit« vorbei © dpaFoto: dpa

Die Vollendung der Einheit – wann kommt sie denn?

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Von Gisela Zimmer

In wenigen Tagen schaut das Land auf 30 Jahre Einheit zurück. Die Bundestagsfraktion DIE LINKE lud deshalb gemeinsam mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung zu einem öffentlichen Gespräch ein. Thema: Deutschland – einig Vaterland?

Sie stand am Schluss, diese Frage, wann die Einheit von Deutschen Ost und West denn wirklich vollzogen sein könnte. Dietmar Bartsch, Fraktionschef der Linken im Bundestag, meinte mit einem Lächeln, wenn „der erste Ostdeutsche in Bayern den Ministerpräsidenten“ stellen würde. Und Claudia Weber, Professorin an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Viadrina in Frankfurt/Oder, entgegnete, „hoffentlich nie“. Sie hätte prinzipiell etwas gegen „Vollendungen“. Warum also nicht das „respektvolle Nebeneinander von Lebensläufen und Meinungen“ akzeptieren? Keine Gleichmacherei. Kein, ihr-müsst-so-werden-wie-wir. Voraussetzung dabei: Augenhöhe. Klingt gut, ist ein einfaches Prinzip. Geklappt hat es offensichtlich sehr unterschiedlich, und es scheint je nach Generation und Geschlecht, Alter und Ausbildung mit sehr unterschiedlichen Erfahrungen verbunden zu sein. Davon erzählten die drei Frauen und der eine Mann auf dem Podium.

Neben Dietmar Bartsch und Claudia Weber diskutierten noch Dagmar Enkelmann, linke Politikerin seit der ersten Stunde in der Wendezeit und heutige Vorsitzende der Rosa-Luxemburg-Stiftung, und Sabine Rennefanz, preisgekrönte Journalistin und Ressortleiterin der Berliner Zeitung. Allen gemeinsam ist die ostdeutsche Herkunft. Damit gab es kein distanziertes Reden und Richten über Ostdeutsche, sondern ein Reflektieren aus dem eigenen Leben heraus. Sabine Rennefanz war am 3. Oktober vor 30 Jahren gerade einmal 15 Jahre alt, lebte in Eisenhüttenstadt und wusste nicht, ob sie das Abitur denn überhaupt noch machen könnte, wenn alles verschwindet. Ihr Tagebucheintrag damals: „Mauerfall super, aber den Westen will ich nicht“. Dagmar Enkelmann war im „Babyjahr“, heute Elternzeit genannt, mit ihrem dritten Kind und das nahm sie überall mit hin. Auch in die letzte, aber erste frei gewählte Volkskammer. Claudia Weber studierte Geschichte in Moskau, ging später nach Hamburg, lehrt und lebt mittlerweile in der Europauniversitätsstadt am breiten Oderstrom. Dietmar Bartsch promovierte, ebenfalls in Moskau. Leitete parallel den damals zweitgrößten DDR-Verlag, Junge Welt, zu dem viel mehr als nur die gleichnamige Tageszeitung gehörte und er freut sich, dass die Vorschulkinderzeitschrift „Bummi“ und das „Mosaik“ noch heute auf dem Markt sind.

Klischees sind etwas anderes als Lebenswirklichkeiten                

Natürlich war es Zufall, aber am Veranstaltungstag „Deutschland – einig Vaterland?“, wurde auch der Bericht der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit veröffentlicht. Er bescheinigt den Ostdeutschen zum wiederholten Mal ein „Demokratiedefizit“. Das „Vertrauen“ in sie sei „auf erschreckend niedrigem Niveau“, verkündete Marco Wanderwitz, CDU und Ostbeauftragter der Regierung. Für die Diskutanten eine Pauschalisierung, ein Stereotyp, eine ideologisches Narrativ, das eher spaltet als zusammenführt. Die Frage sei vielmehr, welche Demokratieerfahrungen in den neuen Ländern mit der Vereinigung gemacht wurden. Mit der Treuhand, mit der Deindustrialisierung, der Massenarbeitslosigkeit, der Abwanderung, der Nichtanerkennung von Berufsabschlüssen und dem bleibenden Gefühl „ein Mensch zweiter Klasse“ im eigenen Land zu sein. Dabei waren es die Ostdeutschen, die die Mauer wegdemonstrierten. Gewaltfrei, mutig, demokratisch. Sie waren es auch, die eine Verfassungsdiskussion anstießen und Änderungsideen in dem von jetzt an gemeinsamen Land einbringen wollten.

Was war möglich in diesem Zeitfenster 1989/1990? Dabei geht es nicht um Verharmlosung, Verklärung, auch nicht um Legenden, sondern um ein differenziertes Betrachten, sagt Bartsch. Das muss die Linke leisten. Jede und jeder in Ostdeutschland kann selbstbewusst darauf schauen, diesen tiefen gesellschaftlichen Umbruch auch privat ausgehalten zu haben, wieder aufgestanden zu sein und sich neu erfunden zu haben. Jetzt, nach 30 Jahren, gibt es immerhin auch einen offiziellen Blick darauf und das Leben der Menschen aus dem Osten wird nicht nur noch auf schwarz-weiß und Unterdrückung und Stasi reduziert. Eröffnet hatte Simone Barrientos, kulturpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE, den Abend. Sie lebt in Bayern, wuchs allerdings in Neustrelitz in Mecklenburg-Vorpommern auf und lernte „Elektriker“. Im Osten gab kaum ein „In“ am Ende der Berufsbezeichnung. Frauen arbeiteten ganz selbstverständlich in Männerberufen. Arbeiteten überhaupt, sagt Simone Barrientos. Und sie sagt, dass die Frauen die „Verliererinnen“ der Einheit gewesen seien. Offener Widerspruch. Ja, es stimmt, Frauen wurden als erste entlassen. Ihnen wurde auch politisch wieder übergeholfen, was sie längst anders leben konnten – nämlich selbstbestimmt ohne den Drohparagraphen 218. Aber sie waren es auch, die sich als erste wieder berappelten. Sie hielten die Familie zusammen, sie schulten um, lernten völlig neue Berufe, gingen weg in die Fremde, trauten sich Unbekanntes zu oder machten sich selbstständig. Sie waren die leisen Mutigen. Auch diesmal. Bei großen Umbrüchen war es nie anders, die Geschichte erzählt viele Geschichten davon. Wenn auch immer erst mit dem Blick zurück, und sei es 30 Jahre danach.