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"Die SPD hat ihre Identität verloren"

Im Wortlaut von Oskar Lafontaine,

Der Vorsitzende der LINKEN, Oskar Lafontaine, 64, über die Krankheit der SPD, seine Gemeinsamkeit mit Helmut Schmidt und die neue Macht seiner Partei

Herr Lafontaine, wie kann es Ihnen eigentlich gutgehen, wenn es der Partei, deren Vorsitzender Sie lange waren, so schlecht geht?

Parteien sind kein Selbstzweck. Sie sollen die Lebensbedingungen der Menschen verbessern. Deshalb ist es nicht gut, wenn es der SPD so schlecht geht, denn eine linke Mehrheit ist auf absehbare Zeit nur mit der SPD möglich.

Das klingt fast wie Anteilnahme.

Es mag Ihren Klischees nicht entsprechen, aber ich fühle mich den Mitgliedern der SPD nach wie vor verbunden. Viele befürworten schließlich eine Politik, wie sie DIE LINKE macht. Nur die SPD-Führung will den Agenda-Kurs und den Kurs der Militärinterventionen nicht verlassen.

Als ehemaliger Vorsitzender sind Sie wahrscheinlich einer der besten außenstehenden SPD-Kenner ...

(lacht) ... das ist wirklich nett: einer der besten außenstehenden Kenner ...

... beugen wir uns also über den Patienten. Was ist Ihre Diagnose?

Die ist ganz einfach. Die SPD hat ihre Identität verloren, und eine Partei, die keine Identität hat, kann nicht erfolgreich arbeiten. Die SPD war eine Partei des Friedens und der sozialen Gerechtigkeit. Heute ist sie eine Partei des Krieges und des Sozialabbaus. Solange das so ist, wird der Auflösungsprozess weitergehen.

Mit anderen Worten: Sie sprechen der SPD ab, noch eine sozialdemokratische Partei zu sein?

Ja, denn "S" steht nicht für Sozialabbau, sondern für soziale Gerechtigkeit. Nach meinem Verständnis ist die SPD schon lange nicht mehr sozialdemokratisch.

Wer ist verantwortlich für das Siechtum der Partei?

Vielleicht kann man der SPD-Führung mildernde Umstände zubilligen. Die Agenda 2010 ist das Programm der Wirtschaftsverbände, und es gibt sicher eine Erklärung, warum eine sozialdemokratische Partei deren Programm übernommen hat.

Helfen Sie uns weiter.

Ich kann mit Goethe antworten: Was ihr den Geist der Zeiten heißt, das ist im Grund der Herren eigner Geist, in dem die Zeiten sich bespiegeln. Die SPD hat sich dem Zeitgeist unterworfen. Weil dieser Mechanismus verlässlich ist und sich der Zeitgeist ändert, gibt es Hoffnung, dass sich auch die SPD wieder ändert.

Wen machen Sie persönlich verantwortlich für den Niedergang der SPD?

Für die Agenda 2010 stehen bekanntlich Gerhard Schröder, Franz Müntefering und Frank-Walter Steinmeier ...

... die üblichen Verdächtigen also.

Lafontaine: Es waren aber auch viele sozialdemokratische Funktionäre aus dem Mittelbau, die diese verfehlte Politik mitgetragen haben. Nur die einfachen Mitglieder haben immer wieder rebelliert und schließlich resigniert.

In der Partei sehnen sich viele nach einer Rückkehr Münteferings.

Die SPD kann sich nur durch eine Neuorientierung ihrer Politik retten. Die Politik, die die SPD-Führung in den vergangenen Jahren gemacht hat - also auch Münteferings Politik - wird von den Wählern und von den Mitgliedern abgelehnt. Und für uns gilt: Solange die SPD bei der Agenda 2010 und der Kriegsbeteiligung bleibt, ist sie für uns kein Koalitionspartner.

Sie ignorieren, dass Deutschland dringend reformbedürftig war. Der Rückgang der Arbeitslosigkeit zeigt doch, dass die Reformpolitik im Kern richtig war.

Der Rückgang der Arbeitslosigkeit in Deutschland ist wie überall in der Welt eine Folge des konjunkturellen Aufschwungs. Das Besondere ist, dass durch die Agenda 2010 die schlechten, ungesicherten Arbeitsplätze immer mehr zunehmen. Wegen dieser Reformen arbeitet fast ein Viertel der Beschäftigten im Niedriglohnsektor, und immer mehr haben eine Rentenerwartung von 400 Euro. Ein toller Erfolg.

Wie viel Verantwortung geben Sie sich selbst am Niedergang der SPD?

Es ist immer schlecht, wenn man seine eigene Rolle selbst beurteilt.

Aber mit Ihrer Flucht aus allen Ämtern im März 1999 begann die Dauerkrise der Sozialdemokraten.

Die sogenannte Flucht war ein Rücktritt aus politischen Gründen. Ich war nicht einverstanden mit dem Bruch aller Wahlversprechen nach der Regierungsbildung und habe daraus die Konsequenzen gezogen.

Sie waren Parteivorsitzender und sind davongelaufen, anstatt zu kämpfen.

Nach der Verfassung bestimmt der Bundeskanzler die Richtlinien der Politik.

Das kann er nicht ohne die Partei, und Sie standen nicht allein in der SPD.

Weite Teile der Bundestagsfraktion und des mittleren Funktionärsbaus trugen den Sozialabbau mit.

Erst erklären Sie uns, die Agenda sei der SPD von der Führung aufgezwungen worden, jetzt ist doch die Partei daran schuld. Das klingt nicht sehr logisch.

Sie ist der SPD von den Wirtschaftsverbänden eingetrichtert worden. Sehen Sie sich die Abstimmungsergebnisse im Bundestag an. Es ist bedauerlich, dass es gegen die totalen Fehlentscheidungen bis hin zur Rente ab 67 kaum eine Gegenstimme gegeben hat.

Können Sie die Enttäuschung Ihrer Mitstreiter von damals verstehen?

Ja, das wirft aber auch die Frage auf, welche Schuld diese Mitstreiter sich selbst zuweisen.

Es gibt also nichts am Niedergang der SPD, wofür auch Sie die Verantwortung tragen?

Meine Mitverantwortung habe ich nie geleugnet, mein Fehler war zuzulassen, dass Schröder Kanzlerkandidat wurde. Ich hätte wissen müssen, was danach kam.

Hängt die Wut, mit der Sie heute die SPD verfolgen, damit zusammen, dass Sie die deutsche Linke damals im Stich gelassen haben?

Das ist Ihre Lesart. Die deutsche Linke wurde von denen verlassen, die eine neoliberale Politik ermöglicht haben. Es entspricht nicht meinem Verständnis von Politik, dass einer verantwortlich sein soll für die Entwicklung einer Partei, die damals noch 700 000 Mitglieder hatte.

Dann erklären Sie uns doch, warum Sie ausgerechnet die SPD zu Ihrem Hauptgegner gemacht haben.

Das ist ein Märchen. Wir führen keinen Kampf gegen SPD, CDU/CSU, FDP oder Grüne. Wir wollen den gesetzlichen Mindestlohn, eine friedliche Außenpolitik, eine andere Rentenformel und eine andere Wirtschafts- und Sozialpolitik.

In Ihren Reden hört sich das anders an. Da geht es immer gegen die SPD.

Das hören Sie heraus.

Von niemandem sind so gehässige Zitate über Sozialdemokraten überliefert wie von Ihnen. Müntefering könne höchstens Plakate kleben, Beck sei ein Dorfbürgermeister.

Ich habe kein Interesse an persönlichen, sondern an politischen Auseinandersetzungen.

Wir haben selbst gehört, wie Sie über Beck gelästert haben.

Na ja, wenn das gehässig ist, der Dorfbürgermeister ist zumindest volksnah.

Was ist eigentlich Ihr Interesse? Soll DIE LINKE zur Ersatz-SPD werden?

Nein, wir wollen Politik verändern, und wir sind dabei, Politik zu verändern. Unsere politischen Inhalte sind inzwischen so populär, dass sie von anderen Parteien übernommen werden. Ob es darum geht, Managergehälter zu begrenzen, die Sozialversicherungsbeiträge nur für Arbeitnehmer zu senken, die Pendlerpauschale im alten Umfang wiederherzustellen, einen linearen Steuertarif zur Entlastung der Facharbeiter einzuführen, die kalte Progression zu beseitigen, bei den Strompreisen Sozialtarife anzubieten oder den Mindestlohn einzuführen. Das sind alles Programmpunkte der Linken, die anfangs bekämpft und dann von den anderen Parteien übernommen wurden.

Man kann Ihre Bilanz auch ganz anders sehen: Sie sind ein Glücksfall für Angela Merkel, weil Sie die deutsche Linke spalten.

Ohne uns würden Merkel und Westerwelle regieren. Nur weil es DIE LINKE gibt, gibt es überhaupt Mehrheiten jenseits von CDU und FDP. Sie können das auch an der Saar sehen. Würde DIE LINKE nicht antreten, gäbe es keinen Regierungswechsel. In Hessen ist es im Übrigen genauso.

Das linke Lager ist durch Sie nicht gewachsen, nur die Gewichte haben sich dramatisch von der SPD hin zur Linken verschoben.

Sie können uns doch nicht für die Fehlentscheidungen der SPD verantwortlich machen, die seit vielen Jahren dazu führen, dass Mitglieder die Partei verlassen und traditionelle Wähler sich überhaupt nicht mehr an der Wahl beteiligen. Durch uns wächst das linke Lager, weil Wähler wieder an Wahlen teilnehmen, die sich in den vergangenen Jahren verweigert haben.

Die Spaltung in mehrere linke Parteien ist das große Trauma der deutschen Arbeiterbewegung. Und Sie vertiefen diese Spaltung.

Die Arbeiterbewegung stand immer für Frieden und nicht für Krieg. Immer dann, wenn sich ein Teil der Arbeiterbewegung für eine Kriegsbeteiligung ausgesprochen hat, gab es die Probleme, die wir heute haben. Wir vertreten im Gegensatz zur SPD die Friedenspolitik Willy Brandts.

Sie erwecken den Eindruck, als würde Deutschland permanent irgendwo einmarschieren.

Wir haben uns am Jugoslawien-Krieg beteiligt, wir beteiligen uns indirekt am Irak-Krieg und direkt am Afghanistan-Krieg, der mittlerweile schon länger dauert als die beiden Weltkriege. Helmut Schmidt sagt, Deutschland habe in Afghanistan nichts verloren. Das ist unsere Position.

Nach Willy Brandt reklamieren Sie nun auch Schmidt für DIE LINKE?

Lafontaine: Schmidt ist gegen die deutsche Beteiligung am Afghanistan-Krieg; er kritisiert den Raubtier-Kapitalismus. Um es zuzuspitzen: Helmut Schmidt ist heute auf dem linken Flügel der SPD angesiedelt. Wer hätte das gedacht.

So viel zum Thema Spaltung, mit der Sie angeblich nichts zu tun haben.

Sie verwechseln Ursache und Wirkung. Es geht um politische Inhalte. Schließlich ist es keine Belanglosigkeit, wie man zu Krieg und Sozialabbau steht. Durch unsere Existenz sorgen wir dafür, dass die anderen Parteien, vor allem die SPD, ihre Politik ändern.

Wir verstehen: DIE LINKE ist in Wahrheit ein therapeutisches Projekt - zur Heilung der SPD.

DIE LINKE ist ein Projekt zur Veränderung der Politik in Deutschland.

Gehört es zu Ihren strategischen Zielen, DIE LINKE und die SPD irgendwann zu vereinen?

Von Vereinigung träumen wir nicht. Unser strategisches Ziel ist es, unsere Politik im Parlament mehrheitsfähig zu machen. In der Bevölkerung ist sie bereits mehrheitsfähig.

Sie übertreiben. Ihre Partei liegt zurzeit gerade einmal bei 13 Prozent.

Alle Untersuchungen zeigen aber, dass unsere Auffassung zur Rente, zur Lohnentwicklung, zum Sozialstaat und zur Außenpolitik von der Mehrheit der Wähler mitgetragen wird.

Wie erklären Sie sich dann, dass in den Ländern, in denen Sie mitregierten, Ihre Wahlergebnisse zurückgegangen sind?

DIE LINKE regiert seit einem Jahr in Berlin mit. Seit einem Jahr gehen die Umfrageergebnisse nach oben.

DIE LINKE regiert schon länger mit, nur hieß sie damals anders.

Nein, DIE LINKE ist eine politische Kraft, die erst seit einem Jahr existiert. Sie müssen umdenken.

Nur das Türschild hat sich geändert.

Entschuldigen Sie bitte, zwei Parteien haben sich zur Linken vereinigt, die PDS und die WASG, seitdem sind über 12000 neue Mitglieder hinzugekommen.

Aber die Partei besteht in ihrer Mehrheit aus früheren PDS-Mitgliedern.

Wir wachsen schnell, täglich kommen neue Mitglieder hinzu.

Wird es in Hessen eine rotrotgrüne Kooperation geben?

Die Möglichkeit der Zusammenarbeit ergibt sich aus den Programmen der beteiligten Partner. Wenn man sie nebeneinanderlegt, stellt man eine große inhaltliche Überschneidung fest. Eine Zusammenarbeit ist deshalb problemlos möglich und hat bereits Erfolge - die Studiengebühren sind weg.

Ist Andrea Ypsilanti für Sie eine verlässliche Partnerin?

Sie steht für eine andere Politik, sie gehört zu denen, die den Kurswechsel der SPD kritisiert haben. Inwiefern sie verlässlich ist, wird sich in der Zusammenarbeit zeigen.

Ihren ersten Anlauf an die Macht musste sie wegen schlechter Vorbereitung abbrechen.

Es ist zu bedauern, dass die SPD in Hessen ihre Truppen nicht beisammenhat, aber es ist schwer von außen zu beurteilen, ob man Frau Ypsilanti
daraus einen Vorwurf machen kann.

Wie sicher sind Sie sich denn Ihrer eigenen Bataillone?

Wir sind uns sehr sicher, denn es gibt keine Gründe dafür, warum ein Fraktionsmitglied der Linken Frau Ypsilanti nicht wählen sollte.

Ist der saarländische SPD-Spitzenkandidat Heiko Maas ein ernstzunehmender Gegner?

Er hat viele an der Saar verunsichert, weil er angekündigt hat, mit der CDU zu gehen, wenn die SPD drittstärkste Partei wird. Wenn er eine Koalition mit der CDU nicht verbindlich ausschließt, steht ihm ein schwerer Wahlkampf bevor.

Herr Lafontaine, wann wird DIE LINKE ihr Godesberg erleben?

Sie sollten besser fragen, wann die SPD wieder ihr Godesberg erleben wird. In den Grundsätzen des Godesberger Programms stehen Sätze wie "Der Krieg darf kein Mittel der Politik sein" oder Aussagen zur Wirtschaftsordnung, die heute kein Sozialdemokrat mehr kennt.

Kritiker in Ihren eigenen Reihen warnen vor einem reinen Anti-Kurs. Ihnen wurde schon vorgeworfen, lediglich die SPD-Konzepte der siebziger Jahre neu zu verkaufen.

In den siebziger Jahren hatten wir eine gerechtere Verteilung, eine geringere Arbeitslosigkeit und mehr Wirtschaftswachstum. Es ist weder veraltet noch ein Rückschritt, wenn eine bessere Politik wieder solche Ergebnisse erreicht.

Herr Lafontaine, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Der Spiegel, 25. August 2008