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»Die Probleme, Sorgen und Interessen der Menschen stehen im Zentrum unserer Politik«

Interview der Woche von Gregor Gysi,


 

Gregor Gysi, Vorsitzender der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag, über die Rolle von Parteitagen für Bürger, Medien und Parteien, über die Existenzberechtigung der LINKEN, die Verantwortung der Bundestagsabgeordneten und über solche, die denken, Kanzler zu können

DIE LINKE bereitet sich gerade intensiv auf ihren Parteitag jetzt am Wochenende in Göttingen vor. Welche Rolle, glauben Sie, spielt diese Veranstaltung für die Menschen außerhalb der Partei?

Gregor Gysi: Für die überwiegende Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger spielt der Göttinger Parteitag eine völlig untergeordnete, nebensächliche Rolle. Es geht ja vorrangig nicht um reale gesellschaftliche Probleme, die auch sie betreffen und interessieren könnten, sondern um die Wahl eines neuen Bundesvorstandes und der Parteivorsitzenden. Es geht also um Selbstbeschäftigung, die in diesem Fall auch sein muss. Da steht das Medieninteresse in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zum eher begrenzten Interesse der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger.

Lohnt der Aufwand, der für einen solchen Parteitag betrieben wird, für die 30 Sekunden in der Tagesschau und für eine Einschaltquote bei der Übertragung auf Phoenix, die vermutlich unter der von Gottschalk Live liegt?

In einer von den Medienberichten und Medienkommentaren dominierten Öffentlichkeit lohnt der Aufwand durchaus. Das ist ein Gebot der Transparenz und ein Angebot, die Diskussions- und Entscheidungsprozesse der LINKEN zu verfolgen und sich selbst eine Meinung über die politischen Kontroversen, Aussagen und personellen Angebote zu machen. Es gibt ja auch zahlreiche Mitglieder, Sympathisantinnen und Sympathisanten der LINKEN, die nicht auf dem Göttinger Parteitag anwesend sein können, aber dennoch interessiert sind, die Debatten hautnah zu verfolgen. Außerdem brauchen wir Klarheit für uns selbst - und zwar dringend.
 
Die Medien haben in den zurückliegenden Wochen über die Personaldebatte in der Partei berichtet. Kann die Bundestagsfraktion am Montag nach dem Parteitag einfach zum Tagesgeschäft zurückkehren und weitermachen wie bisher?

Nein, aber mit den Wahlen eines neuen Bundesvorstandes und der Vorsitzenden sollte das Maß der Selbstbeschäftigung deutlich reduziert und so gut wie beendet werden. DIE LINKE ist kein Selbstzweck, sondern sie bezieht ihre Existenzberechtigung aus ihrem Anspruch, diese Gesellschaft im Interesse der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger zu verändern. Nicht unsere Befindlichkeiten, sondern die Probleme, Sorgen und Interessen der Menschen stehen im Zentrum unserer Politik. Da ist in hohem Maße die Bundestagsfraktion gefragt, denn sie hat parlamentarische Möglichkeiten, einen privilegierten Zugang zu den Medien und auch die nötigen finanziellen Ressourcen, die Politik der LINKEN bei den Bürgerinnen und Bürgern bekannt zu machen.
 
Welchen Anteil hat die Bundestagsfraktion langfristig am Erfolg und Misserfolg der LINKEN?

Das lässt sich schwer beziffern. Aber klar ist, dass die Bundestagsfraktion und ihre Abgeordneten ein hohes Maß an politischer Verantwortung tragen und somit auch für Wahlerfolge und Wahlniederlagen. Das ergibt sich allein schon aus ihrer herausragenden Stellung in Beziehung zu den Medien.
 
DIE LINKE ist nicht die einzige Partei mit Problemen. Gleich mehrere Spitzenpiraten haben in den letzten Wochen Schiffbruch erlitten. Die Obergrünen fetzen sich um die Spitzenkandidatur zur Bundestagswahl. In der SPD glauben mindestens drei Herren von sich, dass sie Kanzler können. Dem FDP-Vorsitzenden sitzen die Wahlgewinner Kubicki und Lindner im Nacken. Die CDU hat intern ein Problem mit der Dominanz durch Angela Merkel. Und die CSU hat Horst Seeufer. Ist die große Krise zu einer Krise der Parteien geworden?

Bei uns können auf jeden Fall mehr als drei den Kanzler beziehungsweise die Kanzlerin. Aber jede Partei hat so ihre Probleme, die nicht auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen sind. DIE LINKE tut sich derzeit deshalb so schwer, weil sie als einzige Partei einen Prozess einer Vereinigung von Ost und West organisiert hat. Bei allen anderen Parteien mit Ausnahme der noch sehr jungen Piraten verlief die Einigung durch Beitritt und Unterordnung der ostdeutschen Mitglieder in die von den Westdeutschen geprägten Strukturen. Bei uns sollte die Vereinigung auf gleichberechtigter Grundlage stattfinden, bei der die unterschiedlichen Kulturen in Ost und West und die unterschiedlichen Biografien der Mitglieder respektiert werden. Dieser Prozess ist kompliziert, aber wir haben uns im Unterschied zu den anderen Parteien für ihn entschieden. Wir müssen aufpassen, dass der Vereinigungsprozess nicht scheitert.

linksfraktion.de, 31. Mai 2012