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Die Menschen in der Ukraine brauchen eine Chance

Kolumne von Stefan Liebich,

Foto: ddp images

 

 

Von Stefan Liebich, Obmann für DIE LINKE im Auswärtigen Ausschuss des Bundestages

"Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete (...) Androhung oder Anwendung von Gewalt." So formulierten es die Unterzeichnerstaaten der Charta der Vereinten Nationen im Jahr 1946 in San Francisco. Ausnahmen im Falle der Bedrohung des Friedens oder einer Angriffshandlung kann nur der UN-Sicherheitsrat selbst beschließen. Der Antrag von Präsident Wladimir Putin an den Föderationsrat Russlands, "Streitkräfte der Russischen Föderation auf dem Territorium der Ukraine bis zu einer Normalisierung der gesellschaftlich-politischen Lage in diesem Land" einzusetzen, steht hierzu in einem klaren Widerspruch. Die Durchführung eines Militäreinsatzes in einem Nachbarland gegen dessen Willen, ja selbst die Androhung eines solchen mit der Begründung einer "außerordentlichen Situation (...), die das Leben von Staatsbürgern der Russischen Föderation, ebenso unserer Landsleute und das umfangreiche Kontingent der Streitkräfte der Russischen Föderation bedroht", ist ein klarer Bruch des Völkerrechts, der ohne jede Relativierung und ohne Wenn und Aber zu verurteilen ist.

"Die LINKE erachtet als internationalistische Partei das Völkerrecht und die Vereinten Nationen als wichtigste Institution für die friedliche Verständigung zwischen den Staaten und Gesellschaften der Erde", heißt es in unserem Parteiprogramm. Dass in der Vergangenheit Militäreinsätze unter Bruch des Völkerrechts durchgeführt wurden, dient uns nicht als Rechtfertigung für immer neue Völkerrechtsbrüche, sondern ruft uns um so mehr auf, dagegen zu protestieren.

Die Menschen in der Ukraine brauchen eine Chance. Es ist nachvollziehbar, dass die Protestierenden auf dem Maidan und anderswo ihren Politikerinnen und Politikern in Regierung und Opposition nicht mehr vertrauten. Die Korruption blüht, die Oligarchen füllen sich die Taschen, während viele Menschen im Land Heizung und Lebensmittel nicht mehr bezahlen können. Die Ukraine, so finden auch wir, soll nicht länger Spielball der Interessen ihrer Nachbarn in Ost und West und der Oligarchen und ihrer Vasallen in der ukrainischen Politik sein. Das Wichtigste ist aber zunächst, dass die Ukraine nicht zerrissen, eine Teilung des großen Landes mit seinen Kornkammern im Westen und der Schwerindustrie im Osten verhindert wird. Auch die Ablösung der Krim wäre einer Beruhigung der Lage in keiner Weise förderlich. Deshalb kann die friedliche Beilegung des Konflikts um die Krim nur mit dem Ziel der Integrität der Ukraine in ihren jetzigen Grenzen in und mithilfe der Gremien stattfinden, in denen die Ukraine auf Augenhöhe mit Russland und den Mitgliedstaaten der Europäischen Union und der NATO verhandeln kann, wozu in erster Linie UNO, Europarat und die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) zählen.

Und verhandelt werden muss auch dann, wenn die Lage sich weiter zuspitzen sollte. Russland und die Europäische Union sollten sich auf einen gemeinsam finanzierten Nothilfefonds verständigen, der dem Land ermöglicht, reguläre und demokratische Neuwahlen vorzubereiten. Im Rahmen einer Friedenslösung sollten UNO, Europarat oder OSZE für eine Auszahlung der Gelder sorgen und gleichzeitig geeignete Schritte unternehmen, damit dieses Geld für die anstehenden Aufgaben zum Erhalt der Lebensfähigkeit des Landes und die Vorbereitung von freien, fairen und international begleiteten Wahlen zur Verfügung steht. Über den künftigen Weg des Landes müssen dann jene entscheiden, die von den Bürgerinnen und Bürgern der Ukraine gewählt werden. Diese Wahl wird angesichts der sich bereits präsentierenden potenziellen Kandidatinnen und Kandidaten gewiss nicht einfach. Ob nun der rechte Demagoge und Antisemit Tjahnybok mit seiner Partei Swoboda, die "Gasprinzessin" Timoschenko und ihre Partei Vaterland oder der Boxer Klitschko mit seiner Vereinigung Udar – sie alle stießen auf dem Maidan auf überwiegende Ablehnung.

"Man vergisst vielleicht, wo man die Friedenspfeife vergraben hat. Aber man vergisst niemals, wo das Beil liegt", formulierte der US-amerikanische Schriftsteller Mark Twain im vorletzten Jahrhundert. Es bleibt zu hoffen, dass die Menschheit seitdem hinzugelernt hat. Weder Generalmobilmachungen noch ein militärisches Eingreifen der NATO wären jetzt sinnvolle Antworten auf Russlands falsche Politik gegenüber der Ukraine. Auch nicht die Absage von gemeinsamen Treffen oder die Abberufung von Botschaftern. Im Gegenteil: „Diplomatie, Diplomatie und Diplomatie“, wie es die Vorsitzenden unserer Partei und Fraktion fordern. Aber auch die außerparlamentarische und Friedensbewegung ist jetzt gefragt, denn militärische Lösungen sind in Wahrheit keine. Und das gilt nicht nur dann, wenn die NATO der Adressat ist, sondern generell.