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Die innere Einheit lässt weiter auf sich warten

Kolumne von Roland Claus,

 

Von Roland Claus, Ostkoordinator der Fraktion DIE LINKE

 

Im fünfundzwanzigsten Jahr der Deutschen Einheit wird erfahrungsgemäß dem Rückblick besonderer Raum gewährt. Dabei kommt in den meisten historischen Abrissen die 40 Jahre währende deutsche Teilung lediglich aus der Perspektive der westdeutschen Entwicklung vor. Wer aber Geschichte real darstellen will, darf die DDR nicht verschweigen oder sie nur auf ihre Defizite reduzieren. Diese holzschnittartige Einschätzung wird weder den ostdeutschen Erfahrungen noch der Lebensrealität in der DDR gerecht. Sie widerspricht dem Ziel der Schaffung der inneren Einheit und unterschlägt die dialektischen Beziehungen zwischen den verschiedenen Lebensmilieus der DDR sowie die Ambivalenzen und Brüche in den sozialen Bedingungen des DDR-Alltags. Das vielfältige Erbe der DDR besteht auch aus sozialen und kulturellen Leistungen, die im Prozess der Einheit verlorengegangen sind und heute mühsam wiedererinnert werden müssen.

Der Einigungsprozess hat verschiedene Facetten. Auf der einen Seite stehen die Öffnung der Diskussionsatmosphäre, Freizügigkeit, demokratische Verhaltensweisen und Rechtssicherheit. Auf der anderen Seite sind viele Chancen durch eine überstürzte Einheit vertan worden. Bis heute ist z.B. keine wirkliche Wirtschafts- und Sozialunion vollzogen worden, was immer noch mit der Abwertung ostdeutscher Lebensleistungen einhergeht.

Die Bundesregierung bestätigt nun in ihrem „Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit 2015“, dass Ostdeutschland nach wie vor nur zwei Drittel der Wirtschaftsleistung pro Einwohner des Westens erbringt, dass auch die Löhne Ost bei diesen zwei Dritteln verharren und dass der Rückstand auf Jahrzehnte hinaus fortbestehen wird. Indem die Regierung dafür das geringere Exportniveau, die Kleinteiligkeit der ostdeutschen Wirtschaft und ein geringeres Niveau der Innovationsaktivitäten verantwortlich macht, gesteht sie ein, dass sie seit nunmehr bereits mehr als zwei Jahrzehnten nicht in der Lage ist, eine den Besonderheiten des Ostens angemessene Wirtschafts-, Regional- und Standortpolitik zu entwickeln. Deutlich wird dies vor allem an den ökonomischen Kennziffern der zementierten Ungleichheit bei den Effektivlöhnen und noch gravierender beim Immobilien- und Geldvermögen privater Haushalte, das in Ostdeutschland bei knapp 44 Prozent des Betrages der westdeutschen Haushalte liegt. Zu befürchten ist außerdem, dass dieser von der Bundesregierung verewigte Rückstand Ost nicht nur die gesellschaftliche Entwicklung in Deutschland selbst behindert, sondern auch negative Auswirkungen auf die Fähigkeit Deutschlands hat, langfristig mit den Migrationsbewegungen in Europa und der Welt umzugehen.

Die kulturellen und generationellen Sozialisationsunterschiede zwischen Ost und West wirken dauerhaft. Für die Ostdeutschen ergibt sich daraus ein Erfahrungsvorsprung, da sie zwei Gesellschaftssysteme aus eigener Anschauung kennen und die Vorzüge und Nachteile gegeneinander abwägen können. Der Systemgegensatz war auch einer der Lebensweisen und der Lebensführung; die faktische Ignoranz dieser Tatsache hat den Teilungsprozess durch Missverständnisse leider noch einmal verlängert.

Ein Vierteljahrhundert nach dem Mauerfall sind immer noch keine gleichwertigen Lebensverhältnisse in Ost- und Westdeutschland erreicht. Positive Effekte und Trends auf dem Arbeitsmarkt erscheinen zu großen Teilen konjunkturbedingt und können kaum auf Strukturanpassungsleistungen zurückgeführt werden. Während es in wenigen westdeutschen Bundesländern auch strukturschwache Gegenden gibt, sind ausnahmslos alle ostdeutschen Länder großflächig von wirtschaftlicher Schwäche betroffen.

Der Jahresbericht enthält keine Verbesserungsvorschläge zum Erreichen der sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen deutschen Einheit, die über die bereits vorhandenen und häufig ernüchternd wirkungslosen Programme und Vorhaben hinausgehen. Die immer noch bestehenden Benachteiligungen der Ostdeutschen, z.B. im Rentenrecht und in der oft weit unterproportionalen Beteiligung Ostdeutschlands an gesamtdeutschen Förderprogrammen, werden im Bericht zwar benannt, aber nicht konkret angegangen.

Zu wünschen wäre ein Aktionsplan zum gesellschaftspolitischen Zusammenwachsen, der nicht nur die Geschichte von BRD und DDR in einem produktiven wechselseitigen Zusammenhang betrachtet, sondern auch über die aktuelle Transformationsphase informiert und zur Diskussion über die Definition von gleichwertigen Lebensverhältnissen sowie zum selbstbewussten Mitgestalten durch die Menschen einlädt. Dabei müssten der ostdeutsche Erfahrungsvorsprung bei der Bewältigung von Transformationsprozessen gesamtdeutsch viel besser genutzt und insbesondere die Menschen in den westdeutschen Ländern für die innere Einheit stärker als bisher gewonnen werden.

linksfraktion.de, 30. September 2015