Zum Hauptinhalt springen

»Die Finanzwelt hat unsere politische Kultur zerstört«

Interview der Woche von Lukrezia Jochimsen,

Lukrezia Jochimsen, kulturpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag, über die Wirkungen der Bankenkrise auf die politische Kultur in Deutschland, das Untergehen der Kritik im Dauerfeuerwerk der Unterhaltungsindustrie und den Verfassungsschutz


Mitte Januar hat der Schriftsteller Ingo Schulze in einem Beitrag für die Süddeutsche Zeitung ein recht düsteres Bild über den Zustand des Gemeinwesens in Deutschland gezeichnet: Spaltung in Arm und Reich, Abschaffung der Demokratie, Ökonomisierung aller Lebensbereiche, Blindheit für den Rechtsextremismus und das Geschwafel der Medien lauteten einige seiner Stichworte. Er forderte, uns selbst wieder ernst zu nehmen und den Mund aufzumachen. Warum bleiben viele Menschen trotz alarmierender Ereignisse ruhig?

Lukrezia Jochimsen: Sich selbst ernst zu nehmen ist schwer angesichts der Fußballorgien ohne Atempause, der nationalen Schnäppchenjagd auf alles, was sich kaufen lässt, der Publikumswahlen beim Dschungelcamp oder in Casting Shows, beim Geldsammeln für den vergrößerten oder verkleinerten Busen… wer  soll sich da ernst nehmen können? Auch angesichts der politischen Ohnmacht, die uns alle lähmt – von den Wählern über die Parlamentarier, die Minister bis hin zur Kanzlerin – auch wenn sie so tut, als sei ihr hektisches Treiben souveränes Handeln. Die Finanzwelt hat unsere politische Kultur zerstört und der elektronische Unterhaltungskomplex spielt auf dazu. Wie haben wir Berlusconi-Italien verspottet! Ist bei uns aber mittlerweile ziemlich genauso. Uns ernst nehmen? Man hat uns gelehrt, darüber zu lachen.

Sie haben lange für Medien und insbesondere das Fernsehen gearbeitet. Derzeit kann man, wenn man sich manche Medien anschaut, auf den Gedanken kommen, dass viele Menschen sich mehr für das Dschungelcamp statt für Politik interessieren. Wie sehen Sie das?

Natürlich interessieren sich mehr Menschen für Dschungelcamp und Castingshows und Shopping-Sender statt Politik. Es sei denn, sie liefert einen handfesten Skandal. Hochjubeln und dann abstürzen lassen – das ist das schönste Medienspiel. Und es schafft natürlich kein Bewusstsein dafür, dass es sich lohnt, sich für öffentliches Leben, Politik zu interessieren oder sich gar einzumischen.

Ingo Schulze beklagte auch, dass die Intellektuellen schweigen. Steckt Deutschland in einer geistigen Krise? Woran fehlt es?

Die Intellektuellen schweigen nicht. Aber jeder macht seins: das neueste Buch, die aktuelle Leserreise, der neue Film, der aktuelle Vortrag, aber selbst wenn sie sich einmischen, wer hört sie schon? Was hat Frank Schirrmacher bewirkt, als er die Thesen von Charles Moore aus dem Englischen übertrug und – immerhin – in der FAZ konstatierte: "Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat!" Das ist hier, wie es in Berlusconi-Italien war. Da gab es auch viele Stimmen des Protestes von Künstlern und Intellektuellen, aber sie gingen einfach im Geplärr und Geschwafel der Mächtigen und ihrer modernen Hofnarren unter.

Die Finanz- und Bankenkrise wird uns auch 2012 begleiten. Die Demokratie ist nach wie vor in den Klauen der Finanzindustrie gefangen. Muss alles erst viel schlimmer kommen, bevor sich etwas ändert?

Es wäre schrecklich, denn es bedeutete viel Leid für viele Menschen.

Ist Postdemokratie ein Begriff, mit dem Sie etwas anfangen können?

Nein!

Was bedeutet die Finanzkrise aus kulturpolitischer Sicht?

Die Finanzkrise ist eine Kulturkrise. Sie verändert unser Gemeinwesen bis zur Unkenntlichkeit. Kulturpolitisch wird Gemeingut zur Disposition gestellt: Theater, Museen, Bibliotheken, alle Schatzkammern unseres Wissens… wir verarmen auf besondere Weise.

Der Bundespräsident hat den Deutschen gerade eine Lektion in der Kunst des Ausflüchtens gegeben und sich dabei sehr schön verstrickt. Kann die deutsche Bevölkerung etwas von ihm lernen?

Schön verstrickt? Da ich gegen ihn kandidiert habe – will ich mich über ihn aber nicht weiter äußern – das sähe nach schlechtem Verlieren aus.

Vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte: Wie bewerten Sie die Rolle des Verfassungsschutzes angesichts neuerlicher Nazi-Morde und der Bespitzelung von 27 Abgeordneten der Fraktion DIE LINKE?

Im neuesten Cicero hat Michael Naumann – Beispiel dafür, dass die Intellektuellen nicht schweigen – zu dieser Frage die beste Antwort gegeben, die ich mir denken kann. Zitat: "Die Bundesrepublik ist heute ein gefestigter Rechtstaat. Der Verfassungsschutz hat keine historisch bemerkenswerte Leistung vorzuweisen, mit der dieser erfreuliche Zustand befördert wurde. Im Gegenteil. Jetzt erst öffnet er seine Archive einer Historiker-Kommission, die sich der Geburt dieser Behörde aus dem Personal eines Polizeistaats widmet, der längst überwunden ist. Sinnvoll wäre es darum, auch diese Institution in die Gegenwart zu überführen – vielleicht als Zweigstelle öffentlich kontrollierbarer Polizeidienste und als Beitrag zur Haushaltskonsolidierung der Länder und des Bundes. Als Meinungskontroll-Behörde hat sie keinen Platz mehr in der Republik. Ohne ihre V-Männer wäre die NPD schon längst verboten."

Wie kann der Rechtsextremismus effektiver bekämpft werden?

Der letzte Satz liefert auch einen Anhaltspunkt dafür, wie wir ansatzweise mit dem Rechtsextremismus jetzt umgehen sollten.

linksfraktion.de, 30. Januar 2012