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Flüchtlingsboot im Mittelmeer © UNHCR/Massimo SestiniFoto: UNHCR/Massimo Sestini

Die Abschottung Europas beenden – Für eine solidarische Migrationspolitik auf Basis der Menschenrechte

Im Wortlaut von Michel Brandt,

Wird öffentlich über das Sterben fliehender Menschen im Mittelmeer, die katastrophale Situation in den Lagern auf den griechischen Inseln oder die vom Kältetod bedrohten Geflüchteten in Bosnien-Herzegowina berichtet, so fallen oft Beschreibungen wie „humanitäre Krise“ oder „Flüchtlingstragödie“. Das legt nahe, es handele sich bei den Missständen um kaum vermeidbare, naturkatastrophenähnliche Situationen. Das ist falsch. Es ist die Folge der politisch gewollten EU-Abschottungspolitik. 

Humanitärer Notstand ist politisch gewollt

Elendslager wie Moria auf der griechischen Insel Lesbos sind kein plötzlicher humanitärer Notstand, in den die EU hineingeschlittert ist. Mit dem sogenannten EU-Türkei-Deal von 2016 und dem Hotspot-System hat die EU die Situation gezielt herbeigeführt. Expert*innen haben schon früh vor drohenden katastrophalen Lebensbedingungen in den EU-Hotspots gewarnt. Umgesetzt wurden sie trotzdem und auf diesem Wege ein Zustand geschaffen, der die Schließung der Fluchtroute über die Türkei nach Griechenland rechtfertigte. 

Das Gleiche gilt für die Entwicklung im zentralen Mittelmeer. Mit dem EU-Libyen-Deal von 2017 wurde die Auslagerung großer Teile der Grenzschutzverantwortung an die sogenannte libysche Küstenwache beschlossen. Diese wurde mit bisher mehr als 90 Millionen Euro finanziell unterstützt, ausgerüstet und ausgebildet, damit sie fliehende Menschen auf See abfangen und nach Libyen zurückzwingen kann. Das Abkommen hatte ganz konkret den Zweck, das vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte am 23.02.2012 bestätigte Verbot der Rückführung von Menschen in das Bürgerkriegsland Libyen zu umgehen. Was Migrant*innen dort droht ist bekannt: Folter, Misshandlung, Vergewaltigung, Menschenhandel, Zwangsrekrutierung, Krankheit, Hunger und Mord – so berichtet Amnesty International.  

Europa schottet sich ab – auf Kosten von Menschenleben

Seit die Operation Mare Nostrum vor Jahren eingestellt wurde, gibt es keine staatliche Seenotrettung im zentralen Mittelmeer mehr. Die zivile Seenotrettung von Hilfsorganisationen wird massiv kriminalisiert und ihre Arbeit erschwert. Währenddessen wird durch Abkommen mit EU-Drittstaaten und einem Ausbau der Überwachungsstruktur sichergestellt, dass fliehende Menschen nicht in Europa ankommen. 

2020 hat nur etwas mehr als die Hälfte der aus Libyen Fliehenden Europa erreicht. Fast 12.000 Menschen wurden nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) abgefangen und zurückgezwungen, mindestens 1.362 sind auf der Flucht verschollen und verstorben – bei einer mutmaßlich sehr hohen Dunkelziffer. Jeder Todesfall im Mittelmeer und jedes Schicksal in libyschen Lagern steht im direkten Zusammenhang mit der auf Abschottung ausgelegten EU-Migrationspolitik. Es braucht folglich einen tiefgreifenden und grundsätzlichen politischen Paradigmenwechsel, um das Leid an den EU-Außengrenzen zu beenden. 

Zusagen der Bundesregierung bleiben Lippenbekenntnisse

Nachdem am 9. September 2020 das Lager Moria niederbrannte, beugte sich die Bundesregierung dem politischen Druck von Opposition und Zivilgesellschaft und sagte die Aufnahme von 1.553 bereits als „schutzberechtigt“ anerkannten Menschen aus den Lagern zu. Fast genau fünf Monate später sind mit Stand 17.02.2021 erst weniger als ein Drittel dieser Menschen in Deutschland angekommen. Während fast wöchentlich Winterstürme und Starkregen über den Lagern toben, leben weiterhin fast 20.000 Menschen unter massivsten Freiheitseinschränkungen und katastrophalen medizinischen wie hygienischen Bedingungen in den mit Stacheldraht umzäunten sogenannten EU-Hotspots. 

Derweil haben sich inzwischen 227 deutsche Städte und Gemeinden zu „Sicheren Häfen“ und zur Aufnahme schutzsuchender Menschen über ihre Regelkontingente hinaus bereit erklärt. Auch mehrere Bundesländer mit linker Regierungsbeteiligung wollen humanitäre Aufnahmeprogramme nach § 23 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes durchsetzen. Umfangreiche Evakuierungen von Menschen nach Deutschland sind ganz offensichtlich keine Frage der Machbarkeit, sondern des politischen Willens der Entscheidungsträger*innen – in diesem Fall von Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU), der sein Einvernehmen zur Aufnahme Geflüchteter verweigert. Die wiederholten Anträge der Fraktion DIE LINKE zur Aufnahme von Menschen aus den Lagern wurden auch von der SPD abgelehnt, selbst nach dem Brand von Moria stimmten nur drei SPD-Abgeordnete dafür. Es bleibt also bei der zögerlichen und über Monate verschleppten Aufnahme von einem Bruchteil der Menschen, welche in keinem Verhältnis zu der Not in den Lagern steht. 

Westbalkan bleibt Pufferzone für illegale Pushbacks 

Auch in Bosnien-Herzegowina harren rund 9.000 geflüchtete Menschen unter unsäglichen Bedingungen aus. Viele von ihnen müssen sich bei Temperaturen von regelmäßig weniger als -10° C in alten Ruinen und selbsterrichteten Baracken in Wäldern durchschlagen. Bosnien-Herzegowina, Kroatien und Serbien bilden eine Art Pufferzone zum EU-Schengenraum, in dem es für die geflüchteten Menschen weder vor noch zurück geht. Aus Ungarn wurden unter den Augen der EU-Grenzschutzagentur Frontex seit 2016 mehr als 50.000 Menschen rechtswidrig nach Serbien zurückgedrängt, wie das Hungarian Helsinki Committee (HHC) berichtet. Nach Angaben des Danish Refugee Council (DRC) wurden zudem aus Kroatien allein seit Mai 2019 mehr als 21.000 Menschen nach Bosnien-Herzegowina gezwungen. 

Der Europäische Gerichtshof zuletzt hat am 17.12.2020 für den Fall Ungarns festgestellt, dass diese Zurückführungen illegal sind. Die Praxis des Zurückdrängens von schutzsuchenden Menschen ohne Prüfung ihrer Asylgesuche, sogenannte Pushbacks, sind jedoch inzwischen fester Teil der EU-Grenzpolitik. Statt die Migrationspolitik an den Grundsätzen der Menschenrechte auszurichten, wird von der EU gezielt die Erosion völkerrechtlicher Bestimmungen betrieben. Sowohl Frontex-Direktor Fabrice Leggeri als auch das Bundesinnenministerium haben zuletzt gar in Frage gestellt, ob ein überfülltes und manövrierunfähiges Schlauchboot überhaupt als in Seenot geraten gilt und eine Pflicht zur Rettung besteht – offenbar ungeachtet der Tatsache, dass diese oder vergleichbare Situationen seit 2014 für mehr als 20.000 Menschen tödlich endeten.

Dringend benötigt: migrationspolitischer Paradigmenwechsel

Die Fraktion DIE LINKE kämpft für eine Migrationspolitik auf der Basis der Menschenrechte, Solidarität und sozialer Gerechtigkeit. Die Forderung nach einem grundlegenden migrationspolitischen Paradigmenwechsel muss deshalb konsequenterweise auch die Forderung nach der Abschaffung von Frontex, dem EU-Hotspotsystem und der Auflösung der Deals mit Libyen, Türkei und anderen Drittstaaten beinhalten. Die EU-Abschottungsagentur Frontex muss aufgelöst und durch ein ziviles europäisches Seenotrettungsprogramm ersetzt werden. Wir brauchen sichere und legale Fluchtwege nach Europa. Statt überfüllten Hotspots braucht es „Sichere Häfen“ und dezentrale, selbstbestimmte Unterbringungen für alle schutzsuchenden Menschen.