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Sahra Wagenknecht © Benjamin ZibnerFoto: Benjamin Zibner

Deutschland feiert sich naiv für Corona-Erfolge – doch Macht fließt längst woandershin

Im Wortlaut von Sahra Wagenknecht, Focus,

Amazon, Google, Microsoft, Facebook und Apple sind die großen Gewinner der Coronakrise. Nicht nur ihre Umsätze und Gewinne sind rapide gewachsen, sondern auch ihre Macht. Während Politiker naiv die fortschreitende Digitalisierung feiern, bedeutet die aktuelle Entwicklung für Europa vor allem eins: zunehmende Abhängigkeit.

Die Schlüssel-Infrastruktur des 21. Jahrhunderts einer Handvoll US-Überwachungskonzernen zu überlassen, heißt nicht nur, eine zunehmende Abschöpfung von Werten und Wohlstand zulasten unserer Wirtschaft hinzunehmen. Es bedeutet vor allem, die Chance auf Souveränität und eine an den eigenen Interessen orientierte Politik in Deutschland und Europa endgültig zu verspielen.

Digitalkonzerne sind Gewinner der Krise

Für Amazon-Chef Jeff Bezos ist die Corona-Pandemie ein Sechser im Lotto. Allein im zweiten Quartal 2020 schoss der Umsatz seines Unternehmens im Vergleich zum Vorjahr um 40 Prozent auf knapp 90 Milliarden Dollar nach oben. Den Gewinn konnte das größte digitale Kaufhaus der Welt glatt verdoppeln. Persönlich ist Bezos seit Beginn der Krise um über 35 Milliarden Dollar reicher geworden. Ähnlich wie ihm geht es auch den Eigentümern der anderen vier großen Digitalkonzerne aus dem Silicon Valley. Apple ist mit einer Marktbewertung von 2 Billionen Dollar gerade zum wertvollsten Unternehmen der Welt aufgestiegen. Überall sprudeln die Gewinne und wachsen die Barreserven, die sich für neue Expansionsprojekte und Unternehmenskäufe nutzen lassen.

Die Ursachen liegen auf der Hand. Kein Homeoffice ohne Videokonferenz, kein Home-Schooling ohne entsprechende Software. Zoom, Microsoft Teams oder Google Classroom machen‘s möglich. Wem die Maskenpflicht oder die Angst vor Ansteckung die Lust auf Shopping in der Innenstadt nimmt, der kann sich seinen Herzenswunsch ebenso gut durch einen Click auf die Amazon-Webseite erfüllen. Fällt der Erlebnisurlaub aus oder trifft einen gar Kurzarbeit, bleibt jedenfalls mehr Zeit, um Spielfilme bei Netflix oder Amazon Prime zu streamen, Youtube-Videos anzusehen oder im Newsfeed des Facebook-Accounts zu scrollen. Laut einem Bericht der Bank of America ist die Menge an digital erzeugten Daten seit Beginn der Corona-Pandemie um 50 Prozent gewachsen.

Algorithmen werden uns besser kennen, als wir uns selbst

Für manche ist das die schöne neue Welt, die die digitalen Technologien uns eröffnen, und die durch Corona nur zusätzlichen Schwung erhalten hat: Vernetzt, vielfältig, demokratisch. Die Perspektiven scheinen verführerisch: Smarte Fitnessuhren, die uns auf Trab bringen und frühzeitig Alarm schlagen, wenn irgendetwas in unserem Körper nicht stimmt. Intelligente Stromzähler, die den Stromverbrauch reduzieren. Lautsprecher wie Amazons Alexa im Wohnzimmer, die uns jeden Wunsch erfüllen, sobald wir ihn nur aussprechen. Kühlschränke, die selbständig nachbestellen, wenn die Milch zur Neige geht. Selbstfahrende Autos, die die Zahl der Verkehrstoten mindern und in die kleinste Lücke problemlos einparken.

Und natürlich: die unzähligen Apps und Online-Dienste, über die wir Flüge buchen, Taxis und Pizzen bestellen, Rechnungen bezahlen, Dates arrangieren, Informationen suchen, Filme und Musik abspielen, uns mit Gleichgesinnten austauschen oder Andersdenkende beschimpfen können. In Zukunft, so verheißen uns die Digitalfreunde, soll alles mit allem vernetzt sein und jedes Produkt über Sensoren kommunizieren, wobei die Unmenge an Daten, die dabei entsteht, ständig über Algorithmen analysiert und ausgewertet wird. Nur zu unserem Besten, versteht sich. Irgendwann müssen wir Alexa dann gar nicht mehr sagen, was wir uns wünschen, die Datensammler wissen, wie wir ticken, was wir wollen, wovon wir träumen, denn sie kennen uns besser als wir selbst.

Wir brauchen Alternativen zu amerikanischen Tech-Konzernen

Ja, es stimmt, digitale Technologien können unser Leben erleichtern und unseren Wohlstand erhöhen. Aber die entscheidende Frage ist: Welche Art von Digitalisierung wollen wir? Welche Daten sollen gesammelt, gespeichert und analysiert werden? Und: Wer speichert, sammelt und analysiert? Denn die Digitalisierung gibt es nicht. Es gibt sehr verschiedene digitale Entwicklungspfade, zwischen denen wir uns  entscheiden sollten, statt auf dem einmal eingeschlagenen blind weiterzutappen.

Der Weg, dem wir augenblicklich folgen, entspricht dem Geschäftsmodell und den Interessen der großen amerikanischen Digitalkonzerne. Es ist ein Weg mit wenigen Gewinnern und vielen Verlierern, und es spricht nichts dafür, dass er unser Leben langfristig verbessern wird. Deshalb haben wir allen Grund, über Alternativen nachzudenken.

Datengewinn bringt das Kerngeschäft

Es fällt auf, dass die größten Digitalunternehmen ihre Gewinne überwiegend nicht mit den Diensten machen, die sie uns Nutzern anbieten und die vielfach kostenlos zur Verfügung stehen. Zwar verkauft Amazon reale Produkte, aber die haben Jeff Bezos trotz der Knebelverträge, die er Händlern und Produzenten aufzwingt, und trotz der kläglichen Löhne für die Logistikmitarbeiter bisher nicht reich gemacht.

 Einträglicher ist da schon Amazon Web Services (AWS), die größte Cloud-Plattform der Welt, über die just all die Dienste laufen, die in der Krise gefragt sind: Videokonferenzen von Zoom, Messenger wie Slack. Aber auch Volkswagem, Zalando, Nike und unzählige andere Unternehmen nutzen sie. Das bringt Amazon Gewinne, aber auch, was noch viel wichtiger ist, Unmengen an Daten. Bei Google und Facebook, die ihre Dienste sämtlich kostenlos anbieten, ist das Geschäft mit den Daten das Kerngeschäft.

Das scheint auf den ersten Blick nicht spektakulär zu sein. Immerhin ist die Analyse von Daten die Basis digitaler Dienstleistungen. Ein guter Navi braucht nicht nur digitale Landkarten, sondern auch Echtzeitdaten und Erfahrungswerte wie, wo und wann sich Staus typischerweise entwickeln. Eine Suchmaschine kann uns bessere Ergebnisse präsentieren, wenn sie reale Suchvorgänge immer wieder auswertet und so ihre Rangliste verbessert.

Die digitale Analyse typischer Fehler oder Schwachstellen, die zu Unfällen führen, mag in verbesserter Bordelektronik und mehr Verkehrssicherheit münden. Und die Vernetzung aller Taxen einer Stadt über eine gute Software, die auch Daten aus der Vergangenheit einbezieht, kann den Fahrern dabei helfen, immer dort zu sein, wo sie gerade nachgefragt werden.

Individualisierte Daten zeigen private und detaillierte Muster

Bei solchen Anwendungen geht es letztlich um die Erkennung von Mustern, von typischen, sich wiederholenden Abläufen, die ein Algorithmus aus unzähligen Daten herausfiltern kann. Diese Art der Digitalisierung ist sinnvoll und nützlich. Wenn wir heute von Digitalisierung reden, geschieht jedoch noch etwas anderes, und dieses andere ist die entscheidende Profitquelle der großen Digitalkonzerne.

Es geht um individualisierte Daten, die sich auf ganz konkrete Menschen, ihren Charakter, ihre Vorlieben, ihre intimsten Lebensumstände beziehen. Es ist eben ein beachtlicher Unterschied, ob eine Suchmaschine registriert, dass bei der Suche nach dem Begriff "Virus" diese oder jene Webseite bevorzugt angeklickt wurde und das in ihrem künftigen Ranking berücksichtigt. Oder ob sie speichert, dass ein gewisser Herr Maier heute nach "Erbschaftssteuer vermeiden", gestern nach "Immobilienanlagen" und vorgestern nach "Scheidung" und "Ziehen in der Brust" gesucht hat und daraus ein Personenprofil erstellt. Immerhin weiß man allein nach diesen drei Suchanfragen einiges über ihn: er ist wohlhabend, hat wahrscheinlich Herzprobleme und trennt sich wohl bald von seiner Frau.

Noch besser wird das Profil natürlich, wenn es Daten auch aus anderen Quellen einbeziehen kann, etwa Bewegungsdaten. Ein Navi, der in Echtzeit registriert, wenn viele Fahrzeuge an einer bestimmten Stelle plötzlich sehr langsam fahren, und diese Daten mit Mustern aus der Vergangenheit abgleicht, kann sicher bessere Routenempfehlungen geben als einer, der nur Landkarten gespeichert hat. Aber kein Navi müsste einem zentralen Server melden, dass Herr Maier jeden Werktag zu einer Adresse fährt, an der eine große Firma ihren Sitz hat, außerdem mit gewisser Regelmäßigkeit einen Ort aufsucht, an dem sich eine psychiatrische Praxis befindet und schließlich schon zwei Mal bei einer Anwaltskanzlei für Familienrecht vorbeigeschaut hat. Für eine gute Navigation sind solche Daten komplett irrelevant, aber wer wissen will, was Herr Maier für ein Mensch ist, wie es ihm gerade geht und was er wohl als nächstes tun wird, für den sind sie zentral.

Überwachungskapitalismus durch die fünf IT-Riesen

Das große Geschäft der US-Datenkraken sind also nicht die digitalen Dienste, die wir nutzen. Die brauchen sie, um uns auf ihre Server zu locken. Der eigentliche Rohstoff, der ihr Geschäft antreibt, sind Daten über unsere individuellen Vorlieben, Interessen und Eigenarten, mit denen sie unser Verhalten vorhersagen, aber auch manipulieren können. Die Havard-Ökonomin Shoshana Zuboff spricht deshalb von Überwachungskapitalismus. Diese Daten fließen bei wenigen Unternehmen zusammen, denn die digitale Welt ist die Welt der großen Plattformen, über die tausende andere Anwendungen und Online-Dienste laufen, die auf sie angewiesen sind.

Sobald wir online gehen, treten wir heute mit mindestens einem der fünf IT-Giganten aus dem Silicon Valley in Kontakt. Bei Smartphones gibt es nur zwei relevante Betriebssysteme, eines von Apple und eines von Google, die als eine Art Türsteher den Eintritt ins mobile Internet überwachen. Wer ins Netz will, muss an ihnen vorbei, oder genauer: sie schauen zu, bei allem, was wir tun. Ein Unternehmen wiederum, das seine Dienste mobilen Nutzern anbieten will, muss ihre Konditionen akzeptieren und auf ihrer Software programmieren.

Verhaltensvorhersagen auf Grundlage individueller Daten lassen sich teuer verkaufen. Im relativ harmlosen Fall an Firmen, die Werbung schalten und uns genau in dem Augenblick erwischen wollen, in dem wir für ihr Produkt zu begeistern sind. Aber das Spektrum der potentiellen Käufer ist breiter. Wer im Bewerbungsverfahren um einen Job aussortiert wird, wer einen Kredit oder eine bestimmte Krankenversicherung bekommt, wer ins Raster von Strafverfolgungsbehörden gerät…, in immer mehr Bereichen unseres Lebens spielen automatisierte Programme, die mit der Analyse personenbezogener Datenpakete gefüttert werden, eine entscheidende Rolle.

Konzerne aus China werden kritisiert, dabei machen US-Giganten genau das gleiche

Selbstverständlich sind solche Daten auch da gefragt, wo Staaten ihre Bürger überwachen und kontrollieren wollen. Tatsächlich existiert mittlerweile ein Paralleluniversum zu den Big Five aus dem Silicon Valley, das von chinesischen Digitalkonzernen getragen wird. Diese sind heute ähnlich groß wie die US-amerikanischen und stellen prinzipiell die gleichen Dienstleistungen von der Suchmaschine über E-Commerce bis zu sozialen Medien bereit. Auch sie sammeln und analysieren fleißig Daten über das Privatleben ihrer Nutzer. Sie sind kein Produkt von Marktwettbewerb, sondern erfolgreicher Intervention und aktiver Digitalpolitik seitens des chinesischen Staates.

Mit Ausnahme des Netzwerks für Kurzvideos TikTok haben die chinesischen Anbieter allerdings in westlichen Ländern bisher kaum Marktanteile und die US-Regierung tut alles dafür, dass das so bleibt. Mit einem angedrohten Verbot erzwingt Trump gerade den Verkauf des US-Ablegers von TikTok an ein amerikanisches Unternehmen. Großes Kaufinteresse hat Microsoft.

Das ruppige Vorgehen gegen die chinesischen Digitalanbieter wird damit begründet, dass der chinesische Staat über sie Zugriff auf unsere Privatsphäre, Einfluss auf unsere Wirtschaft und letztlich sogar auf unsere Politik erhalten würde. Das ist sicher richtig. Es ist nur verblüffend, wie wenige darüber nachdenken, dass das gleiche Argument uns auch davon abhalten sollte, unsere Wirtschaft und unsere digitale Kommunikation der Kontrolle von US-Digitalkonzernen auszuliefern, deren enge Kooperation mit dem amerikanischen Staat und seinen Geheimdiensten spätestens seit 2013, als der Insider Edward Snowden seine Erfahrungen veröffentlichte, außer Zweifel steht.

Angewiesen auf Unterstützung der Politik

Auch die amerikanischen Datensammler verdanken ihre Entstehung Milliardensubventionen aus öffentlichen Töpfen. In seinen frühen Tagen war das Silicon Valley schlicht eine Außenstelle des Pentagon, wo die militärische und geostrategische Relevanz digitaler Technologien sehr früh erkannt wurde. Heute sind die Großen Fünf natürlich auf Staatsgeld nicht mehr angewiesen. Was sie allerdings brauchen wie die Luft zum Atmen ist die politische Duldung ihres Geschäftsmodells, das in seinem ungenierten Zugriff auf die Privatsphäre der Bürger elementaren Grundfreiheiten und selbstverständlich auch der amerikanischen Verfassung widerspricht. Das Wohlwollen der amerikanischen Politik einschließlich Regulierungsfreiheit erkaufen sie sich schlicht dadurch, dass sie den amerikanischen Staat und seine Dienste an ihren Überwachungserkenntnissen teilhaben lassen.

Schon 1997 hatte der damalige CIA-Direktor George Tenet das Ziel unverblümt ausgesprochen: "Die CIA muss im Valley mitschwimmen". Shoshuana Zuboff spricht von einer "Wahlverwandtschaft" zwischen den US-Nachrichtendiensten und den Überwachungskapitalisten. Seit dem Cloud Act vom März 2018 dürfen US-Behörden von amerikanischen Cloud-Providern sogar ganz offiziell die Herausgabe sämtlicher Daten zu Personen und Unternehmen, auch solchen im Ausland, verlangen. Die Betroffenen erfahren davon nichts.

Der Umstand, dass Daten über alle Details unseres Privatlebens und unserer Wirtschaft auf den Servern privater Unternehmen statt in den Akten eines totalitären Staates lagern, sollte uns daher nicht beruhigen. Allein dass solche Daten gesammelt und gespeichert werden, öffnet Missbrauch Tür und Tor.

Facebook & Co. wollen über richtig oder falsch entscheiden

Zumal die Digitalkonzerne – und somit auch der hinter ihnen stehende Staat - nicht nur Macht über Daten und Märkte haben, sondern letztlich auch über politische Entwicklungen und Stimmungstrends. Bei den sozialen Netzwerken ist aktuell Facebook der Türsteher, der mittels eines komplett intransparenten Algorithmus darüber entscheidet, was Milliarden Nutzer zu sehen bekommen und was nicht. Über die gleiche Macht verfügt Google im Internet mit der Suchmaschine, bei den News oder bei Youtube. Wer oder was nicht gesehen wird, findet nicht statt.

Es mag sein, dass der Algorithmus augenblicklich nicht für politische Manipulationen genutzt wird. Aber allein die Macht, ihn auch politisch nutzen zukönnen, nämlich dafür, Personen zum Star zu machen oder zum Verschwinden zu bringen, politische Strömungen zu pushen oder kleinzuhalten, und das in Medien, die Milliarden Menschen nutzen und zu denen es nahezu keine Alternative gibt, ist mit einer demokratischen Gesellschaft unvereinbar. Und all diejenigen, die von Facebook und Co. verlangen, die Posts auf ihren Netzwerken strenger zu zensieren, sollten sich darüber klar sein, was sie da eigentlich fordern: ein Wahrheitsministerium mit Sitz in Kalifornien, das für den Rest der Welt über richtig und falsch entscheidet.

Und die amerikanischen IT-Giganten wollen noch mehr. Noch mehr Daten und noch mehr Macht. Deshalb arbeiten sie seit Jahren daran, in neue Bereiche vorzustoßen, die sich zuvor noch außerhalb der Reichweite ihrer Überwachungssensoren befanden. Unsere Wohnung, unser Auto, unser Zahlungsverkehr, unsere Bildung, unsere Gesundheit, die öffentliche Verwaltung... In all diesen Gebieten gibt es nützliche Anwendungen digitaler Dienstleistungen, aber unter heutigen Umständen bedeutet jeder zusätzliche Schritt der Digitalisierung, dass wir noch gläserner werden und irgendwann den letzten Winkel unserer Privatheit verlieren. Und dass wir immer abhängiger werden.

Mit "Android Automotive OS" etwa hat Google bereits ein umfassendes System für Fahrzeuge entwickelt, das die komplette Cockpitelektronik steuert. General Motors, Fiat Chrysler, Volvo und Renault-Nissan wollen es in künftige Modelle einbauen. Die deutschen Hersteller haben jetzt zwar heroisch angekündigt, ein eigenes System entwickeln zu wollen, aber zur Wahrheit gehört, dass ihnen das ziemlich spät einfällt. Zudem hat man das Gefühl, dass sie einfach nur auch ein Stück vom Datenkuchen abhaben wollen, und sei es am Katzentisch der Großen.

Europa hat keine Digitalmacht - das muss sich ändern

Europa findet in der Schlüsselbranche des 21. Jahrhunderts schlicht nicht statt. Natürlich gibt es europäische IT-Unternehmen und Start-ups. Aber sie programmieren auf den großen US-Plattformen, akzeptieren notgedrungen ihr Geschäftsmodell und die besonders erfolgreichen werden irgendwann von ihnen aufgekauft. Anstelle einer schönen neue Welt digitaler Dienste, in der Vielfalt und Demokratie sich entfalten, beschert uns die aktuelle Form der Digitalisierung also einen rücksichtslosen Überwachungskapitalismus, in dem die USA und China gegeneinander um geostrategische Macht ringen und Europa eine klägliche Figur abgibt.

Daraus folgt nicht, dass wir die Nutzung digitaler Technologien stoppen und ins analoge Zeitalter zurückkehren sollten. Daraus folgt, dass Europa einen eigenständigen Weg einschlagen muss. Dabei sollten wir es allerdings nicht machen wie die Chinesen und einfach nur mit politischer Einflussnahme und viel Staatsgeld kommerzielle europäische Datenkraken großziehen, die dem gleichen Geschäftsmodell folgen wie die amerikanischen und am Ende ihren Platz einnehmen.

Eine echte Alternative zu den Big Five aus dem Silicon Valley wären nichtkommerzielle digitale Plattformen mit öffentlich zugänglicher Software, die individuelle Verhaltensdaten schlicht nicht mehr speichern und damit auch nicht mehr missbrauchen können. Zugleich sollten wir Geschäftsmodellen, die auf dem Ausspionieren unseres Lebens und unserer Privatsphäre beruhen, generell die legale Grundlage entziehen, indem wir die Speicherung individueller Verhaltensdaten per Gesetz verbieten, und zwar für alle Unternehmen, die in Europa tätig sein wollen.  Diese nichtkommerziellen Plattformen, die kein eigenes Geschäftsinteresse verfolgen und keine Gewinne machen müssen, sollten dann die Grundlage der Digitalisierung und Vernetzung unserer Wirtschaft und Kommunikation werden.

Eine solche Digitalisierung würde letztlich da anknüpfen, wo das Internet einst begonnen hat, als ein ein Mann namens Tim Berners-Lee einen einheitlichen Code für Internetseiten und deren Verlinkung programmierte. Die Programme von Berners-Lee ermöglichten kommerzielle Webseiten, aber sie selbst waren kein kommerzielles Projekt. Sie gehörten niemandem, niemand konnte mit ihnen Gewinne machen, Daten abschöpfen oder die Sichtbarkeit von Seiten manipulieren. Damit hätten wir die Chance auf eine Digitalisierung, die Freiheit, Wettbewerb und Demokratie fördert, statt all diese Werte zu untergraben.

Focus,