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Mitarbeiter der Stadtreinigung kehren am 11. November 2016 im afghanischen Mazar-i-Sharif die Straße vor dem bei einem Anschlag schwer beschädigten deutschen Konsulat © REUTERS/Anil UsyanFoto: REUTERS/Anil Usyan

Der Westen hat Afghanistan ins Chaos gestürzt – wieder einmal

Im Wortlaut von Heike Hänsel,

Heike Hänsel, stellvertretende Vorsitzende der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag, über die Bilanz der Besatzungspolitik, Menschenrechte und die verfehlte Politik der Bundesregierung

 

Außenminister Frank-Walter Steinmeier hat sich vor wenigen Tagen mit Durchhalteparolen für den Afghanistan-Einsatz an die Vorsitzenden der Bundestagsfraktionen gewandt. Angesichts des offensichtlichen Scheiterns der westlichen Besatzungspolitik auf allen denkbaren Ebenen versichert der Sozialdemokrat, die NATO habe nun ihren „Operationsplan überprüft“ und „Ausbildungs- und Beratungsleistungen konkretisiert“, um „die erreichten Fortschritte zu vertiefen und abzusichern“. Eine absurde Einschätzung, die zeigt, wie die Bundesregierung in ihrer eigenen Realität lebt. Denn das NATO-Besatzungsregime in Afghanistan ist gescheitert. Was Afghanistan braucht, ist eine politische Lösung, Entwicklung und Frieden.

Dies zeigt auch der letzte Bericht des UN-Generalsekretärs Ban Ki-moon an die Vollversammlung der Vereinten Nationen, er spricht von:

  • wachsenden Spannungen an den Grenzen Afghanistans und in der Regierung;
  • eine hochbrisanten Sicherheitssituation und intensiven Operationen im Kampf mit den Taliban-Milizenj;
  • einem neuen traurigen Rekord ziviler Gewaltopfer im ersten Halbjahr 2016;
  • einer zunehmenden Unhaltbarkeit der Sicherheitsausgaben, die durch die Wirtschaftsleistung nicht gedeckt sind;
  • einer Besorgnis erregenden humanitären Situation;
  • einem absehbaren Rekordernte von Schlafmohn zur Opiumproduktion.

Das bedeutet, dass der UN-Generalsekretär in jedem aufgeführten Politikfeld ein Scheitern konstatiert. Von den Steinmeierschen „Erfolgen“ findet sich in dem Bericht nichts.

Das Scheitern der NATO-Politik schlägt sich vor allem in der militärischen Lage wieder, die von steigenden Opferzahlen, Anschlägen und Kämpfen geprägt ist. Im ersten Halbjahr 2016 wurden nach offizieller Zählung der UN-Mission UNAMA 5.166 Zivilisten bei Anschlägen oder Kämpfen verwundet oder gar getötet – eine deutliche Zunahme. Dabei ist die Bundeswehr stärker involviert. Die Bundesregierung versteckt diesen Sachverhalt hinter dem Begriff des „Partnering“, der deutschen Ausbildungshilfe für afghanische Soldaten in Kampfhandlungen. Und während die Bundeswehr der afghanischen Armee beisteht, sind aber vor allem US-amerikanische „Special Operation Forces“ mehr als einmal taktische Kooperationen mit lokalen Warlords eingegangen. Was bedeutet, dass die westlichen Besatzer auch indirekt gegeneinander arbeiten. Zugleich kooperiert auch die NATO mit brutalen Warlords wie Muhammed Attar in Masar-i-Sharif zusammen, die die Bevölkerung unterdrücken. Doch auch die Zentralregierung verfolgt, wie alle seriösen Menschenrechtsbilanzen zeigen, oppositionelle Kräfte wie die Solidaritätspartei oder Frauen- und Menschenrechtsaktivistinnen wie Malalai Joya. Zu diesem düsteren Panorama tragen auch die fortlaufenden Luftangriffe der USA bei, die zuletzt Anfang November im nordafghanischen Kundus mindestens 30 Zivilisten getötet haben. Dazu kommen zahllose Drohnenangriffe im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet.

Klar ist vor diesem Hintergrund, dass jede Abschiebung nach Afghanistan eine Abschiebung in den Tod bedeuten kann. Wer jetzt junge Menschen nach Afghanistan abschiebt, ohne ihre Perspektive und Sicherheit zu garantieren, riskiert, dass sie in den Händen von Taliban-Milizen oder dem ebenso präsenten sogenannten „Islamischen Staat“ landen. Schließlich haben diese Terrorgruppen nicht nur in weiten Landesteilen die Macht, sie bieten oft auch die einzige Einkommensquelle.

Inmitten dieses Chaos‘ bleibt für wirtschaftliche Entwicklung und den Ausbau von Menschenrechten wenig Raum. Die UN-Mission für Afghanistan (UNAMA) konstatiert, dass die Rechte von Mädchen und Frauen „gestärkt werden müssen“. Das ist zurückhaltend formuliert: In 95 Prozent der Fälle von Gewalt gegen Frauen kommt es zu keinem Verfahren. Ein Hauptgrund dafür ist, dass Frauen, wenn sie ihre Peiniger anzeigen, verstoßen werden und vor dem Nichts stehen. Dabei war der Einmarsch in Afghanistan 2001 noch mit den Rechten von Mädchen und Frauen begründet worden.

In Bezug auf die Entwicklung in Afghanistan spricht Tadamichi Yamamoto, der Afghanistan-Beauftragte von UN-Generalsekretär Ban von „beachtlichen Herausforderungen“. Als einer der Staaten, die weltweit am stärksten auf Entwicklungszusammenarbeit angewiesen sind, werde es für Afghanistan „schwer, ohne ein Ende des Konfliktes auf eigenen Beinen stehen zu können“. Der laufende Konflikt „beansprucht Ressourcen, die besser in die Entwicklung Afghanistans und die Hilfe seiner Menschen investiert werden sollten“, schreibt Yamamoto. Auch die westliche Entwicklungszusammenarbeit kann an diesem Defizit wenig ändern. Denn obwohl afghanische Firmen die meisten Aufträge beim Wiederaufbau des Landes günstiger und effizienter ausführen könnten, bekommen meist westliche Konzerne den Zuschlag. Kritisiert hat diese „gebundene Hilfe“ schon vor langem etwa Caritas International, weil sich das Zielland verpflichtet, für die „Hilfen“ Unternehmen aus dem Geberstaat zu engagieren. Die Hilfsorganisation Oxfam schätzt, dass rund 40 Prozent der Entwicklungsgelder unmittelbar zurück an westliche Konzerne fließen.

Selbst regierungsnahe deutsche Experten, etwa von der Stiftung Wissenschaft und Politik, sprechen sich zudem gegen eine Erhöhung der Mittel aus, weil die Gelder, die im Land bleiben, „in die falschen Taschen abfließen und Korruption eher noch verstärken“. Eben das wird auch das Schicksal der 13,6 Milliarden US-Dollar sein, die westliche Geberstaaten nach Kabul überweisen wollen, im Gegenzug für ein neu geschlossenes Rücknahmeabkommen von Flüchtlingen. Ein fataler Weg in doppelter Hinsicht, besser wäre es, demokratische Kräfte und ländliche Entwicklung zu unterstützen.

Neben Militarisierung, Krieg und Unterentwicklung hat das westliche Besatzungsregime einen neoliberalen Umbau des afghanischen Staates zu verantworten. Staatseigentum wird privatisiert, die (Rohstoff-)Märkte für westliche Akteure geöffnet, Konzerne werden von Steuern befreit. Deutschland ist beim Ausverkauf der afghanischen Ressourcen führend: Das Bundesamt für Außenwirtschaft hat eigens eine Agentur eingerichtet, um deutschen „Investoren“ beizustehen, die Afghan Investment Support Agency (AISA). In der neuen afghanischen Verfassung wurde der neoliberale Umbau festgeschrieben: „Der Staat ermuntert und schützt private Kapitalinvestitionen und Unternehmen.“ Zolleinnahmen und Steuern sind kaum vorgesehen, soziale Rechte der Bevölkerung ebenso wenig.

Vor diesem Panorama stehen wir, wenn diese Woche im Bundestag über die Verlängerung des Bundeswehrmandates für die NATO-Mission „Resolute Support“ abgestimmt wird. DIE LINKE wird auch dieses Mal aus allen genannten – und weiteren – Gründen gegen diesen Einsatz stimmen. Stattdessen haben wir Aktivistinnen der afghanischen Solidaritätspartei nach Berlin einladen, um von ihnen zu hören, wie sich die Situation vor Ort entwickelt und welches Vorgehen sie vorschlagen.