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Der Sozialstaat braucht Investitionen

Im Wortlaut,

Rolf Rosenbrock, Sie sind Vorsitzender des Paritätischen Gesamtverbandes. Können Sie uns mit wenigen Worten den Paritätischen vorstellen und die zentralen Ziele benennen, die der Verband verfolgt?

Rolf Rosenbrock: Der Paritätische ist einer der sechs Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege. Er ist Dachverband von über 10.000 eigenständigen Organisationen, Einrichtungen und Gruppierungen im Sozial- und Gesundheitsbereich. Er repräsentiert und fördert seine Mitgliedsorganisationen in ihrer fachlichen Zielsetzung und ihren rechtlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Belangen. Der Gedanke der Gleichwertigkeit aller – der Parität – ist es auch, der das Selbstverständnis des Verbandes kennzeichnet: Der Paritätische versteht sich als Solidargemeinschaft unterschiedlichster und eigenständiger Initiativen, Organisationen und Einrichtungen, die ein breites Spektrum sozialer Arbeit repräsentieren. Besonderen Wert legt der Verband auf die Förderung mitbürgerlichen Engagements, auf die Unterstützung ehrenamtlicher sozialer Arbeit und die Hilfe zur Selbsthilfe. Der Paritätische sieht es als seine Aufgabe an, soziale Missstände aufzuzeigen, und will durch engagiertes Handeln auf eine Sozial- und Gesellschaftspolitik hinwirken, welche die Ursachen von Benachteiligung beseitigt.

Der Paritätische hat eine Expertise mit dem Titel "Handlungsbedarf. Was Sozialreformen wirklich kosten" vorgelegt. Können Sie uns den Hintergrund für diese Expertise erläutern? Was hat sie veranlasst diese Expertise zu erarbeiten? 

Ob die Vermeidung von Altersarmut, der Investitionsbedarf an deutschen Schulen, die Ermöglichung umfassender Teilhabe von Menschen mit Behinderung, Maßnahmen gegen wachsende Wohnungsnot oder die Notwendigkeit der Einführung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffes – all dies sind Themen, bei denen über alle Parteien hinweg unbestrittener Handlungsbedarf gesehen wird. Ohne gezielte und deutliche Investitionen in soziale Infrastruktur und für drängende sozialpolitische Reformen wird der Sozialstaat wie wir ihn heute kennen, morgen nicht mehr funktionieren. Angesichts wachsender sozialer Ungleichheit und akuter sozialpolitischer Herausforderungen stehen der gesellschaftliche Zusammenhalt, der soziale Frieden und damit letztlich neben dem Wirtschaftsstandort auch der Lebensstandort Deutschland heute mehr denn je auf dem Spiel.

Die Expertise benennt Mindestinvestitionsbedarfe für verschiedene sozialpolitische Handlungsfelder. Auf welche Größenordnung schätzen sie den sozialen Investitionsbedarf insgesamt und welche der gennannten Handlungsfelder erscheinen ihnen aus heutiger Sicht am dringlichsten?

Insgesamt ergeben sich Mindestbedarfe von zusätzlich rund 35 Milliarden Euro pro Jahr.  Dabei sind wichtige und ohne Frage ebenfalls unbestrittene akute Herausforderungen, wie der Ausbau der Kindertagesbetreuung, der Fachkräftebedarf in der Pflege oder die Förderung der Mobilität von einkommensschwachen Personen auf Grund der unzureichenden Datenlage noch überhaupt nicht in die Kostenrechnung eingeflossen. Im Ergebnis handelt es sich also um einen Mindestbedarf und Orientierungsgröße für die weitere politische Diskussion. Es erscheint dabei ungerecht sich einen bestimmten Teilbereich herauszugreifen und als besonders wichtig im Vergleich zu den anderen darzustellen. Kann man den Anspruch an gute Bildung mit der Schaffung einer Inklusiven Gesellschaft vergleichen? Wie will man Armutsbekämpfung der Integration von Migrantinnen und Migranten vorziehen?

Wie würden Sie vor diesem Hintergrund die bisherigen Aktivitäten und Vorhaben der Regierung bewerten? Wie bewerten Sie die Aussage, dass die notwendigen sozialpolitischen Investitionen nicht ohne eine Politik der steuerpolitischen Umverteilung geleistet werden können?  

Eine Sozialpolitik, die alle Menschen mitnimmt, anstatt einzelne auszugrenzen, ist weder zum Nulltarif noch ohne Mehrkosten zu haben. Wer es also wirklich ernst meint, kommt nicht darum herum, erstens mit ehrlichen und seriösen Zahlen zu arbeiten und im Ergebnis dann auch zweitens die Verteilungsfrage zu stellen. Wenn die staatlichen Einnahmen nicht erhöht werden, bekommen wir keinem der beschriebenen Bereiche zufriedenstellenden oder sachgerechte Lösungen. Die homöopathischen Leistungsverbesserungen der bisherigen Legislaturperiode, die wie in der Rentenpolitik oftmals auch noch die falschen erreichen, sind das beste Beispiel dafür. Wenn wichtige Sozialreformen verschleppt und in die Zukunft verlagert werden, ist das nicht nur die heute schon Bedürftigen katastrophal, sondern auch unter dem Gesichtspunkt der Generationengerechtigkeit höchst fragwürdig.

Sie sind in dieser Woche als Referent beim Fachgespräch "Gesellschaftlicher Wert und Bedarf sozialer Dienstleistungen und Infrastruktur" zu Gast. Welche Anregungen und Forderungen werden Sie den Abgeordneten mit auf den Weg geben?

Wer in Regierungsverantwortung ist, muss Antworten darauf geben können, was er wann und mit welchem Aufwand auf den sozialpolitischen Großbaustellen anpacken will. Wahlversprechen ohne klare Benennung der Kosten und der Quellen ihrer Deckung sind genauso unseriös, wie Pseudoreformen zum Spartarif. Dafür ist eine Debatte um mehr Transparenz und Ehrlichkeit in der Sozialpolitik und ihrer Finanzierung unerlässlich. Dabei ist auch Aufgabe der Oppositionsparteien immer wieder darauf hinzuweisen, dass Deutschland nicht nur Wirtschaftsstandort, sondern vor allem auch Lebensstandort ist. Bei allen Diskussionen um Investitionsbedarfe stehen hinter den Zahlen auch immer Menschen und Schicksale.

linksfraktion.de, 12. November 2014