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»Der Rückzieher ist charakterlos und dreist«

Im Wortlaut von Klaus Ernst,

Die SPD-Abweichler haben dafür gesorgt, daß ihre Partei die Landtagswahl nachträglich verloren hat. Ein Gespräch mit Klaus Ernst.

Hätten Sie es für möglich gehalten, daß sich in Hessen drei weitere SPD-Landtagsabgeordnete weigern, ihre Landesvorsitzende Andrea Ypsilanti zur Ministerpräsidentin zu wählen?

So etwas konnte ich mir nicht vorstellen. Die Bodenlosigkeiten in dieser Partei sind offensichtlich grenzenlos - es wurden ja mit allen Abgeordneten Gespräche darüber geführt, ob sie bereit seien, diesen Weg zu gehen. Als dann alles klar war, haben diese Politiker einen Rückzieher gemacht - das ist so etwas von charakterlos und dreist, da fehlen mir fast die Worte.

Wie erklären Sie sich diesen Schwenk? Gab es vielleicht eine Einwirkung von außen?

Ich halte es durchaus für möglich, daß der eine oder andere in der Parteizentrale heimlich die Fäden gezogen hat und jetzt öffentlich bedauert, daß das in Hessen nicht geklappt hat. Einem großen Teil der SPD-Mitglieder traue ich jetzt nicht mehr über den Weg - man muß einfach zur Kenntnis nehmen, daß diese Partei in einem desolaten Zustand ist. Mir tut Andrea Ypsilanti leid, sie ist mutig diesen Weg gegangen und an ihrer eigenen Partei gescheitert. Am meisten bedauere ich, daß der CDU-Politiker Roland Koch weiter Ministerpräsident bleibt - die SPD wurde ja schließlich von den Bürgerinnen und Bürgern gewählt, um ihn loszuwerden. Jetzt muß man diesen SPD-Abweichlern vorwerfen, daß ihre Partei die Wahl nachträglich verloren hat, daß sie als Betrügerin dasteht. Das haben weder Frau Ypsilanti noch wir zu verantworten.
Eine gewisse Nähe zur Korruption ist unter Sozialdemokraten salonfähig geworden - ich erinnere an den ehemaligen Transnet-Vorsitzenden Norbert Hansen.

Halten Sie es für denkbar, daß im Fall dieser hessischen SPD-Abweichler mit irgendwelchen Boni nachgeholfen wurde?

Das wäre pure Spekulation, dazu will ich mich nicht äußern.

Kann man angesichts der hessischen Erfahrungen mit einer Partei wie der SPD noch zusammenarbeiten?

In Hessen jedenfalls nicht. Anderswo muß man von Fall zu Fall entscheiden - in Berlin zum Beispiel sieht das ja ein wenig anders aus. Das Problem ist, daß völlig unklar ist, welchen Weg die SPD gehen will. Wenn sie eine linke, sozialdemokratische Politik machen will, dann geht das nicht ohne die Linkspartei. Ansonsten hat sie nur die Wahl, Juniorpartner der CDU zu werden oder Oppositionspartei zu bleiben.

Verbessert sich durch das hessische Desaster die Position der Linkspartei?

Es ist wohl deutlich geworden, daß wir die zuverlässigeren Partner sind. Bei Neuwahlen würde die Linke deutlich gewinnen und die SPD ebenso deutlich verlieren.

Es wird immer wieder spekuliert, ob auf Bundesebene irgendwann eine Koalition der Linkspartei mit der SPD möglich ist. Was würden Sie angesichts der hessischen Erfahrungen dazu sagen?

Auf Bundesebene gibt es für eine solche Koalition keine Grundlage, weil die SPD keine sozialdemokratische, sondern eine neoliberale Partei ist. Nicht zuletzt durch die Wahl von Franz Müntefering zum Parteichef ist deutlich geworden, daß die SPD an der Agenda 2010 festhält. Für uns ist das keine Geschäftsgrundlage.

Kann man das Scheitern des hessischen Tolerierungsmodells nicht auch als Glücksfall für die Linkspartei interpretieren? Auf diese Weise bleibt Ihren Parteifreunden in Wiesbaden das Risiko erspart, auf neoliberale Winkelzüge der SPD und der Grünen hereinzufallen.

Diesen Gedankengang halte ich für absurd. Es geht schließlich um die Menschen - und mit der Entscheidung dieser SPD-Abgeordneten wurde die Chance vertan, eine andere Politik durchzusetzen.

In der linken Öffentlichkeit wird hin und wieder bemängelt, auch die Linkspartei habe in der öffentlichen Wahrnehmung angesichts der Finanzkrise nicht deutlich genug klare Perspektiven für eine andere Politik aufgezeigt.

Ich weiß nicht, woher solche Unsicherheiten kommen. Die Bundestagsfraktion jedenfalls hat sich klar und eindeutig gegen das Stabilisierungsgesetz der Bundesregierung ausgesprochen. Wir lehnen es deshalb ab, weil wir grundsätzlich andere Wege zur Lösung der Finanzkrise wollen. Wer das kritisiert, sollte sich vorher sachkundig machen.

Interview: Peter Wolter

junge Welt, 4. November 2008