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Der Fall Schlecker ist nur die Spitze des Eisbergs

Interview der Woche von Klaus Ernst,

Es ist ein Treppenwitz der Geschichte, dass sich gerade die schwarz-gelbe Regierung den Kampf gegen Armut und soziale Ausgrenzung auf die Fahnen schreiben soll, stellt Klaus Ernst im Interview der Woche fest. Es ist ein Skandal, dass sich ein so reiches Land wie Deutschland soviel Armut leistet. Für DIE LINKE gilt deshalb: »Hartz IV muss weg!«

Die EU hat das Jahr 2010 zum Europäischen Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung erklärt. In der deutschen Öffentlichkeit fand dies bisher kaum Widerhall. Warum ist Armut kein Thema?

Es ist doch ein Treppenwitz der Geschichte, dass sich gerade die schwarz-gelbe Bundesregierung den Kampf gegen Armut und sozialer Ausgrenzung auf die Fahnen schreiben soll. In den Mittelpunkt ihrer politischen Kommunikation stellt die Bundesregierung beschönigende Daten. Sie ergeht sich in Sonntagsreden statt Armut wirksam zu bekämpfen. Armut und Arbeitslosigkeit fallen aber nicht einfach vom Himmel. Sie haben gesellschaftliche Ursachen.

Der unverschuldete Absturz in Armut muss durch sozialstaatliche Sicherungen verhindert werden. Wer ohne eigenes Einkommen ist, muss auf die Allgemeinheit vertrauen können und seinen Lebensunterhalt wissen. Und eine Gesellschaft, die längere Arbeitslosigkeit Zeiten der nicht verhindern kann oder will, muss Wege finden, die aus der Armut wieder herausführen.

Wo sehen Sie die wesentlichen Ursachen der Zunahme von Armut in Deutschland?

Dreh- und Angelpunkt für die Zunahme von Armut sind die Arbeitsmarktreformen der rot-grünen Bundesregierung. Sie sind eine der massiven Triebkräfte für eine Spaltung am Arbeitsmarkt in Richtung Ausbau prekärer Arbeitsverhältnisse und Lohndumping. Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit mit Hartz IV hat dazu geführt, die sozialen Standards abzubauen. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist seit 2005 dagegen nahezu konstant geblieben.

Leittragende sind vor allem Kinder und Alleinerziehende. Sie haben keine Chance der Hartz IV-Falle zu entkommen. Es ist ein Skandal, dass sich ein so reiches Land wie Deutschland soviel Armut leistet. Für DIE LINKE gilt deshalb: »Hartz IV muss weg!« Neben einer bedarfsdeckenden und repressionsfreien soziale Mindestsicherung müssen wir vor allem den Niedriglohnsektor bekämpfen. Das geht am besten mit einem gesetzlichen Mindestlohn.

Gerade Kinder sind von Armut betroffen, obwohl denen ja niemand vorwerfen kann, sie würden sich nicht genug bemühen. Es scheinen sich auch quer durch die Fraktionen alle einig, dass das nicht sein darf. Ändert sich wenigstens hier etwas?

Nein. Dies wird besonders deutlich bei der Anhebung des Kindergeldes um 20 Euro zu Beginn diesen Jahres: Da heißt es auf der eigens von der Bundesregierung für das »Europäische Jahr« eingerichteten deutschen Website »Jedes Kind ist wichtig - Entwicklungschancen verbessern!«

Allerdings unterscheidet die Bundesregierung ganz offensichtlich nach weniger wichtigen Kindern, dazu gehören die über zwei Millionen bedürftige Kinder und Jugendliche und deren Familien, die sie von der Kindergeldanhebung ausschließt, und Kindern, deren besserverdienenden Eltern von der Anhebung des Kinderfreibetrags deutlich bevorzugt werden. Dazu aber kein Wort von der schwarz-gelben Regierungskoalition.

Nicht nur Kinder, auch Rentnerinnen und Rentner sind in besonderer Weise betroffen. Was müsste aus Ihrer Sicht am dringendsten geschehen?

Wir brauchen jetzt eine sofortige Rentenerhöhung um vier Prozent als Ausgleich für die realen Kürzungen der letzten zehn Jahre. Das wäre gerecht und außerdem eine Antikrisenmaßnahme, weil die Massennachfrage angekurbelt würde. Es ist den Rentnerinnen und Rentnern doch kaum vermittelbar, dass Banken schon wieder Milliardengewinne machen und sie gleichzeitig seit Jahren kurz gehalten werden.

Diese Regierung behandelt die Rentnerinnen und Rentnern schlechter als Banker. Sie bekommen keine Staatshilfen und Nullzinskredite, wenn ihr Konto leer ist. Außerdem brauchen wir einen rentenpolitischen Neubeginn. Eine neue lebensstandardsichernde Rentenformel muss die Murkserei der Vergangenheit ablösen und dafür sorgen, dass die Rentner auch von den Produktivitätsgewinnen der Wirtschaft profitieren.

2010 ist auch das Jahr, nachdem Schröder seine Agenda 2010 benannt hat. Die Agenda hat die SPD in einer Weise abstürzen lassen, die bislang undenkbar war. Nach den jüngsten Skandalen um Leiharbeit bei der Firma Schlecker zeigt sich Andrea Nahles entsetzt darüber, dass Unternehmen die Möglichkeiten ausnutzen, die ihnen die rot-grüne Koalition verschafft hat.

Die rot-grüne Regierung hat die Leiharbeit dereguliert und damit Lohndumping Tür und Tor geöffnet. Deswegen sind die Krokodilstränen, die Andrea Nahles jetzt vergießt, an Verlogenheit kaum zu überbieten. Gefälligkeitstarifverträge von so genannten christlichen Gewerkschaften sorgen dafür, dass der Grundsatz »Gleicher Lohn für gleiche Arbeit« systematisch unterlaufen wird. Dabei ist der Fall Schlecker nur die Spitze des Eisbergs. Die Befürchtung, dass durch Schlecker die ganze Leiharbeitsbranche diskreditiert wird, ist deshalb falsch. Sie ist es bereits und das zu recht.

Um die Auswüchse modernen Sklaventums durch Leiharbeit wirksam zu bekämpfen, fordert DIE LINKE das Prinzip »Gleicher Lohn für gleiche Arbeit« ohne Ausnahmeregelungen. Gleichzeitig soll die Überlassungshöchstdauer wieder auf drei Monate begrenzt und den Leiharbeiterinnen und Leiharbeitern ein Flexibilitätszuschlag gezahlt werden. Und: Die Betriebsräte müssen über den Einsatz von Leiharbeit mitbestimmen können.

Auch der DGB wird die Höhe des geforderten Mindestlohns nach oben korrigieren. Ihnen ist im letzten Wahlkampf vorgeworfen worden, unrealistisch hohe Mindestlöhne zu fordern. Beschleicht Sie manchmal ein Gefühl von Genugtuung?

Es ist gut, dass auch der DGB seine Mindestlohnforderung anhebt. Im europäischen Vergleich wären für Deutschland zehn Euro pro Stunde durchaus angemessen. Dann würde jeder Vollzeitbeschäftigte den Sprung aus der Armut schaffen, und niemand müsste mehr Armutsrenten im Alter fürchten. Der Mindestlohn wäre ein Antikrisenprogramm, weil er die Massennachfrage ankurbeln und die Sozialkassen stützen würde.

Bedauerlich ist vor allem, dass wir den Mindestlohn schon längst haben könnten, wenn die SPD die Einführung nicht blockiert hätte, als es im Bundestag dafür noch eine Mehrheit gab. Jetzt haben wir mit der FDP eine Regierungspartei, die sich ständig mit dem Slogan, dass sich Arbeit wieder lohnen soll, schmückt, und auf der anderen Seite jeden noch so kleinen Schritt in Richtung Mindestlohn blockiert. Westerwelle wird so zum Lügenbaron der deutschen Politik.

www.linksfraktion.de, 19. Januar 2010