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Den Wahnsinn stoppen

Im Wortlaut von Alexander Ulrich,

 

Von Alexander Ulrich, Mitglied im Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union, erschienen als Gastkommentar in der Tageszeitung junge Welt

 

Als 2013 die öffentliche Debatte um das Wirtschaftsabkommen TTIP zwischen EU und USA losbrach, beteuerten die Befürworter stets, wie gut dieser Vertrag für die Wirtschaft sei. 0,5 Prozent mehr Wachstum pro Jahr sollte er bringen, über 500 Euro Einkommensplus pro Familie. Die gesamte TTIP-Werbung baute auf diesen Zahlen auf. Um sie zu belegen, wurde eine ganze Reihe von Studien einschlägiger Institute vorgelegt.

Es dauerte nicht lange, bis diese Argumentation krachend zusammenfiel. Zu offensichtlich politisch waren die Studien, zu unseriös die Methoden und zu widersprüchlich die Ergebnisse. In einem peinlichen Rückzugsgefecht mussten Lobbyisten eingestehen, Fehlinformationen verbreitet zu haben und die Angaben auf ihren Websites korrigieren. Seither hört man wenig vom »kostenlosen Konjunkturpaket« TTIP.

Akuter ist die Auseinandersetzung um CETA, dem bereits verhandelten Freihandelsabkommen EU-Kanada. Auch hierbei wird von den Befürwortern suggeriert, dass es neuen Schwung in die Wirtschaft bringt. So ist auf der Website des Bundeswirtschaftsministeriums zu lesen, die EU-Kommission erwarte, »dass sich durch CETA das jährliche Bruttoinlandsprodukt« der EU um »zirka zwölf Milliarden Euro pro Jahr erhöhen wird«. Das klingt nach viel Geld. Wenn man genau hinschaut, gibt es jedoch ebensowenig Anlass, auf nennenswerte Wachstumsimpulse zu hoffen wie bei TTIP.

Die Erwartungen Brüssels beruhen auf einer Studie, die von der EU-Kommission selbst gemeinsam mit der kanadischen Regierung, herausgegeben wurde. Es wurde nicht einmal versucht, den Anschein politischer Neutralität zu erwecken. Auch die Methodik entspricht etwa jener, mit der die TTIP-Wachstumseffekte ermittelt wurden. Die Studien simulieren eine Welt, in der es keine Arbeitslosigkeit gibt, die Haushalte ausgeglichen sind und alle, deren Jobs nicht mehr gebraucht werden, sofort einen neuen finden. Eine Welt, die mit der unsrigen wenig gemein hat.

Selbst wenn die prognostizierten Zahlen erreicht werden sollten – was unwahrscheinlich ist – bedeutet es bei CETA einen Wachstumsimpuls von 0,08 Prozent. Dies entspräche einem Zusatzeinkommen von 23,20 Euro pro Kopf und Jahr, 1,93 Euro pro Monat – bei Gleichverteilung der Effekte. Wovon niemand ausgeht.

Klar ist: Das Wachstumsargument bei CETA ist noch schwächer als bei TTIP. Stellt sich die Frage: Wozu brauchen wir dieses Abkommen? Wollen wir uns wirklich mit Stillstands- und Sperrklinkenklauseln dauerhaft auf eine Deregulierungs- und Liberalisierungspolitik festlegen, Regulierungsfragen aus dem parlamentarischen Bereich nehmen und an eine Handvoll Technokraten übertragen, Investoren jeder Art weitreichende Sonderklagerechte einräumen und das Selbstverwaltungsrecht der Kommunen massiv beschneiden? Nur wegen der vagen Hoffnung auf einen eventuellen Einkommenszuwachs von maximal 1,93 Euro monatlich? Wir sollten diesen Wahnsinn stoppen.

junge Welt, 19. September 2015