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Den Opfern Namen und Gesicht geben

Nachricht von Christine Buchholz, Jan van Aken,

Ein Jahr ist keine lange Zeit. Alle Wunden sind noch offen, alle Bilder noch im Kopf.

 

Als der Anwalt vieler Angehörigen der Opfer von Kundus, Karim Popal, am 4. September 2010 in der Berliner Heilig-Kreuz-Kirche anfing zu reden, waren die Tage um den 4. September 2009 wieder präsent. Die widersprüchlichen Meldungen, die Versuche, die Ereignisse gut zu reden und klein zu schreiben. Für diejenigen, die damals schon lange davon sprachen, dass in Afghanistan Krieg herrscht und die Bundeswehr am Hindukusch nicht unsere Freiheit verteidigt, sondern kriegsführende Partei ist, war Realität geworden, was sie befürchtet hatten.

 

Erinnern wir uns: Um 15:30 Uhr am 3. September 2009, gab es den ersten Toten: Taliban hatten zwei mit Benzin und Diesel beladenen Tanklaster bei Aliabad entführt und einen der beiden Fahrer erschossen. Das geschah in etwa acht Kilometer vom Bundeswehr-Camp bei Kundus entfernt. Die Entführer versuchten bald darauf, den Kundus zu überqueren und blieben dabei mit ihren Fahrzeugen im Flussbett stecken. Das war kurz nach 19 Uhr dem Gouverneur bekannt, der daraufhin auch die Bundeswehr informierte. Die schickte Drohnen an die Unfallstelle  und zählte danach 67 Taliban-Kämpfer vor Ort. Aus den umliegenden Dörfern kamen zahlreiche Menschen in Autos oder zu Fuß zu den Lastern im Fluss. Es müssen zuletzt rund 140 Taliban und Zivilisten gewesen sein. Gegen 21:15 Uhr wurde der Bundeswehr-Kommandeur des PRT  – das steht für Provincial Reconstruction Team – informiert. Der setzte sofort auf Zerstörung und forderte Luftunterstützung an. Kurz nach 1:00 trafen zwei F-15E ein. Die Piloten wollten die Menschen durch Tiefflüge erschrecken und vertreiben. Die Bundeswehr lehnte ab und forderte, die Bomben zwischen den Laster zu platzieren, wo sich viele Menschen befanden. Und so geschah es. Zwei Bomben töteten alle: Junge und Alte, Zivile und Kämpfer. Nach Deutschland kam die Nachricht von diesem Massaker nur kleckerweise und so wirr, dass schon bald ersichtlich war, dass hier kräftig gelogen wurde: Alle wollten nichts erfahren, nichts gewusst haben. Bis Anfang November behaupteten Bundeswehr, Bundeswehrverband und die Politiker der Regierungsparteien, der Angriff sei angemessen gewesen und zivile Opfer habe es, wenn überhaupt, nur in kleinem Umfang gegeben. 

 

Am 6. September 2009 hatte die Bundeskanzlerin gesagt: „Wenn es zivile Opfer gegeben hat, dann werde ich das natürlich zutiefst bedauern.“ Sie hat es - nachdem  die ganze fürchterliche Wahrheit über dieses Massaker publik geworden war - nicht getan. Weder zutiefst noch angemessen.

 

In die Heilig-Kreuz-Kirche kamen am 4. September 2010 nicht so viele Menschen, wie es hätten sein sollen. Aufgerufen, sich zu erinnern hatte ein sehr breites Bündnis aus Friedensbewegungen und –Organisationen, der Partei DIE LINKE und einzelnen Gliederungen von Bündnis 90/Die Grünen. 

 

Es war ein eher stiller Abend. Die Abgeordneten der Fraktion DIE LINKE, Christine Buchholz und Jan van Aken, sprachen über ihren Besuch in Kundus Anfang Februar des Jahres, über ihre Gespräche mit Hinterbliebenen und Überlebenden. Christian Ströbele, der ebenfalls dort war, redete darüber, einen Film des amerikanischen Militärs gesehen zu haben, auf dem die vielen schwarzen, sich bewegenden Punkte lebendige Menschen waren. Und dann gab es keine schwarzen sich bewegenden Punkte mehr. 

 

Christine Buchholz zitierte aus dem Frage-Antwort-Katalog der Bundesregierung zum Afghanistan-Einsatz den Satz: „Mit der Modernisierung des Landes wird auch die Lage der Frauen verbessert. Daran wirken wir mit.“ Im Hintergrund war das Foto einer trauernden afghanischen Mutter zu sehen. Im Eingangsbereich der Kirche konnte man das Foto von Dr. Habibe Erfan betrachten, die vor einem Jahr gemeinsam mit Korschid Saka die Liste der zivilen Opfer erstellte, indem sie von Haus zu Haus ging und fragte, wer in dieser Nacht nicht heimgekehrt war. 

 

„To take out the people“, lautet der Befehl von Oberst Klein am 4. September 2009. Die Leute ausschalten. 

 

5000 Dollar gab die Bundesregierung jeder Familie, die einen oder mehrere Angehörige verloren hat. 

 

Es gibt, sagten die Organisatoren der Veranstaltung in der Heilig-Kreuz-Kirche, keine andere Möglichkeit, als die Beteiligung der Bundeswehr an diesem Krieg zu beenden und aus Afghanistan abzuziehen.