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Demokratie zurückgefahren, Überwachungsstaat ausgebaut

Kolumne von Jan Korte,

Von Jan Korte, Leiter des Arbeitskreises III – Demokratie, Kultur, Wissen und Bildung der Fraktion DIE LINKE und Mitglied im Fraktionsvorstand

  Als im Juli die verheerenden Folgen der Bombenanschläge in Oslo und des anschließenden Massakers auf der norwegischen Insel Utöya deutlich wurden, sagte Premierminister Jens Stoltenberg dem Terror mit so deutlichen, wie unerwarteten Worten den Kampf an. "Unsere Antwort ist mehr Demokratie, mehr Offenheit und mehr Humanität!", so der norwegische Ministerpräsident. Norwegen werde sich seine freiheitlichen Grundwerte nicht nehmen lassen. Dieses klare Bekenntnis zur freiheitlichen Demokratie, welches zudem in einer Krisensituation ausgesprochen wurde, verdient den größten Respekt. 
  Umso deutlicher wird an diesem Beispiel der Kontrast zur Innenpolitik der Bundesregierung in diesem Jahr. Zwei Tage nach den Anschlägen meldeten sich die ersten Sicherheitshardliner der Union und forderten die Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung. Völlig sinnentleert bei einer möglichen Bedrohung durch Einzeltäter, völlig respektlos gegenüber den Opfern.  Ist die Plumpheit der einzelnen Wortmeldungen aus dem Unionslager noch eher als Hilfestellung für die FDP gedacht, die wenigstens in einem Thema zumindest medial dagegen halten darf, so ist die Grundausrichtung der Regierungspolitik für Bürgerrechte und Demokratie katastrophal.

Mitte August beschloss das Kabinett die Verlängerung der Anti-Terror-Gesetze, die den Geheimdiensten und Sicherheitsbehörden nach den Anschlägen vom 11. September 2001 weitgehende Befugnisse einräumten. Die Regelungen, die als Reaktion auf einen Anschlag mit tausenden Toten getroffen wurden und zur Beruhigung des Gewissens der Abgeordneten der damaligen rot-grünen Koalition befristet und mit Evaluierungsklauseln versehen wurden, haben heute ihren festen Platz im Instrumentenkoffer der Sicherheitsbehörden. Der medienwirksame Streit der Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger mit ihren Unionskollegen über die Verlängerung war nur ein Schaukampf: Die erneute Befristung der Gesetze und die Streichung von sowieso nicht angewendeten Befugnissen aus dem "Otto-Katalog" bringen dem demokratischen Rechtsstaat jedenfalls nichts, dem gegenüber stehen die neu aufgenommenen Befugnisse u.a. zur zentralen Abfrage von Bank- und Fluggastdaten. Mit der Verlängerung der Anti-Terror-Gesetze dürfte endgültig klar sein, dass Evaluierungsklauseln lediglich Rechtsstaatsplacebos sind, solange sie zu keiner unabhängigen Überprüfung von Gesetzen nach demokratischen und rechtsstaatlichen Prinzipien verpflichten. 
  Auch die Affäre um den sogenannten Staatstrojaner machte deutlich, dass es der Bundesregierung – positiv ausgedrückt – an Ernsthaftigkeit im Umgang mit Bürgerrechten mangelt. Der Chaos Computer Club (CCC) hatte im Oktober mehrere Versionen sogenannter Staatstrojaner, die zur Überwachung von verschlüsselter Internettelefonie eingesetzt wurden, analysiert und herausgefunden, dass die Programme zu weit mehr fähig sind, als das Verfassungsgericht erlaubt. In bester guttenbergscher Manier rückten die beteiligten Innenministerien der Länder und auch der Bundesinnenminister nur mit Informationen heraus, wenn sie dazu gezwungen wurden. Den negativen Höhepunkt setzte Innenminister Hans-Peter Friedrich, als er dem Landgericht Landshut, welches den im Freistaat stattgefundenen Trojanereinsatz als rechtswidrig verurteilt hatte, bescheinigte, es habe eben eine andere "Meinung" als die Landesregierung. Das Landgericht berief sich bei seinem Urteil wiederum auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Online-Durchsuchung, welches darin festgelegt hatte, dass eine Infiltration von Rechnern nur stattfinden darf, wenn "tatsächliche Anhaltspunkte einer konkreten Gefahr für ein überragend wichtiges Rechtsgut" bestehen und Maßnahmen zum Schutz des privaten Kernbereichs getroffen werden. DIE LINKE kritisiert schon seit langem, dass diese Garantie technisch nicht umsetzbar ist.   Schützenhilfe kam unfreiwilligerweise vom Bundesinnenministerium selbst, welches zum einen mitteilte, dass auch der von Bundesbehörden eingesetzte Trojaner über eine Funktion zum Nachladen weiterer Informationen verfügt und damit praktisch grenzenlos einsetzbar ist. Zum anderen musste das Innenministerium auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion einräumen, nicht im Besitz des Quellcodes des von einer Privatfirma entwickelten Schadprogramms zu sein, da dieser ein Geschäftsgeheimnis darstelle. De facto kann die Bundesregierung bis heute nicht für die Einhaltung verfassungsrechtlicher Vorgaben beim Funktionsumfang des Programms garantieren. Sie hat sich auf einen Deal eingelassen, der gleichbedeutend mit der völligen Abgabe der Kontrolle in einem bisher beispiellosen Umfang ist. Der Fall hat deutlich gezeigt, welche Auswüchse der Trend zu Privatisierungen im Sicherheitsbereich treibt, wenn der Staat nicht nur hoheitliche Aufgaben an Private vergibt, sondern sie gleichzeitig in die Verantwortung für die Rechtmäßigkeit staatlicher Überwachungsmaßnahmen nimmt und Geschäftsgeheimnisse der Wirtschaft über die demokratische Kontrolle stellt.   Die Anschlagsserie der rechten Terrorgruppe "Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) hat nicht nur offenbart, wie schlecht der technisch hochgerüstete Sicherheitsapparat in der Bundesrepublik funktioniert, wenn es darauf ankommt. Die schleppende Aufklärung und die wöchentlichen Meldungen über die Fehltritte von Ermittlern und Verfassungsschutzämtern belegen auf drastische Art und Weise, was passiert, wenn staatliche Institutionen fern aller Kontrolle und Öffentlichkeit agieren. Die Bundesregierung hat aus dem Skandal nichts gelernt. Statt die Vorgänge unabhängig und öffentlich untersuchen zu lassen, hat Innenminister Friedrich pensionierte Böcke zu Gärtnern gemacht: den früheren Präsidenten von Bundesverfassungsschutz und Bundesnachrichtendienst, Hansjörg Geiger und den ehemaligen Präsidenten des Bundeskriminalamtes (BKA), Ulrich Kersten. Viel Aufklärung ist da nicht zu erwarten, genauso wenig wie eine weitergehende Kritik und Analyse der Rolle der Verfassungsschutzbehörden von Bund und Ländern, die sich bislang ungeschoren aus der Affäre ziehen konnten.   Dabei ist Kritik am Verfassungsschutz so alt wie er selbst. "Es nützt gar nichts […], wenn die Ämter immer nur nach links sehen und glauben, da geschehe etwas, während sie nach rechts zu sehen nicht vermögen oder wagen und infolgedessen nicht merken, daß auch dort etwas geschieht." Dieses Zitat des SPD-Bundestagabgeordneten Dr. Otto Heinrich Greve  (zit. nach Gembella, Gero: Geheim-Gefährlich, Köln 1990, S.21.) stammt mitnichten aus der jüngsten Debatte um das Versagen des Verfassungsschutzes bei der Bekämpfung rechten Terrors, anlässlich der jahrelangen Mordserie des NSU. Greve sagte dies im Jahr 1950 in der Bundestagsdebatte zum "Gesetz über die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in Angelegenheiten des Verfassungsschutzes".   Über 60 Jahre lang wurde diese Warnung bestätigt. Der Verfassungsschutz pumpt über V-Leute seit etlichen Jahren jede Menge Geld in die NPD und andere rechte Organisationen, angeblich ohne Informationen über eine rechte Terrorzelle erhalten zu haben. Auch der alltägliche Nazi-Terror, der seit 1990 über 130 Menschenleben gefordert hat, wurde dadurch nicht bekämpft. Für den Eifer hingegen, den staatliche Behörden an den Tag legen, wenn es um mutmaßliche Linksextremisten geht, ist die massenhafte Funkzellenabfrage in Dresden das beste Beispiel: in Dresden wurden nicht nur die Handydaten von Teilnehmerinnen und Teilnehmern des demokratischen Widerstands gegen den Naziaufmarsch im Februar erhoben und gespeichert, sondern auch die Daten aller in dem Gebiet lebenden Dresdnerinnen und Dresdner.
  Die innenpolitische Bilanz der Bundesregierung lautet auch in diesem Jahr: Demokratie zurückgefahren, Überwachungsstaat ausgebaut. Wer noch so naiv war, sich von einer Bundesregierung mit Beteiligung der FDP innenpolitisch mehr zu erhoffen, als von einer durch Sicherheitshardliner dominierten Truppe zu erwarten wäre, wurde wieder einmal enttäuscht. Der große bürgerrechtliche Wurf, den Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger angekündigt hatte, ist ausgeblieben. Vielmehr ist zu befürchten, dass die politisch und gesellschaftlich marginalisierte FDP künftigen Überwachungsträumen rein gar nichts mehr in den Weg stellen wird.

Umso wichtiger ist die Beteiligung der Zivilgesellschaft an der innenpolitischen Debatte und der gesellschaftliche Widerstand gegen den Abbau von Demokratie und Bürgerrechten. Wie schwer dies allerdings wird, sahen wir im nun zu Ende gegangenen Jahr, als die Rückkehr eines "Lügenbarons" die mediale Debatte um die Rechtmäßigkeit des Einsatzes staatlicher Spähsoftware schlichtweg beendete.   Um aus der Defensive zu kommen, müssen wir diesen Abwehrkämpfen eine positive Vision einer demokratischen Gesellschaft an die Seite stellen. Dabei geht es um die grundsätzliche Gestaltung von Demokratie auf allen Ebenen. Wir fordern zu Recht Volksabstimmungen auch auf der Bundesebene, Bürgerhaushalte in den Kommunen und das Wahlrecht für Migrantinnen. Darin erschöpft sich die Problematik allerdings nicht, dessen sind wir uns bewusst. Das Ziel der LINKEN und der Bürgerrechtsbewegung muss eine Institutionalisierung demokratischer Kontrolle sein, sei es in den Sicherheitsbehörden, zur Kontrolle der Polizei oder auch zur Evaluierung von Gesetzen und des Regierungshandelns.
  Wir müssen uns weiterhin einsetzen für die Beendigung der Geheimpolitik mit der Wirtschaft in Parlamenten und Regierungen. Wir dürfen uns nicht damit abspeisen lassen, wenn Kriegseinsätze und die Tätigkeit der Geheimdienste als Verschlusssachen deklariert werden, denn sie sind Existenzfragen der Demokratie und der Menschen. Die Banken- und Schuldenkrise verdeutlicht, wie wichtig eine demokratische Kontrolle von Wirtschaft und Finanzen ist. Und vor allem muss es uns in den nächsten Jahren darum gehen, in einem Demokratisierungsprozess der Demokratie für die Bereitstellung von Ressourcen zu kämpfen, die es breiten Bevölkerungsschichten ermöglichen, demokratische Teilhabemöglichkeiten auch in Anspruch zu nehmen und sich selbst zu ermächtigen.