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»Das schlug ein wie eine Bombe«

Nachricht,

Erinnerung an die Geschichte einer politischen Intrige

Luc Jochimsen (l.) und Inge Heym bei der Veranstaltung am 10. November 2013 zum Gedenken an die Rede des Alterspräsidenten Stefan Heym am 10. November 1994, Foto: Ulli Winkler

 

 

Von Gisela Zimmer

Auf den Tag genau vor 19 Jahren, am 10. November 1994, eröffnete Stefan Heym die konstituierende Sitzung des neu gewählten Parlaments. Heym - ein Schriftsteller, ein Querdenker zu und in allen Zeiten, dazu ein Linker und jetzt auch noch Alterspräsident - sollte das erste Wort zu Beginn der zweiten Legislaturperiode im vereinten Deutschland haben! War das zu verhindern? Versucht wurde es. Ein Gerücht machte die Runde: Heym hätte der Stasi zugearbeitet. Ein Gerücht, das sich mit dem Blick zurück als  politische Intrige entpuppt. Eine Lesung, ein Film, eine  Diskussion – fast zwei Jahrzehnte später – erzählen davon. 

Später Vormittag, im Palais am Festungsgraben in Berlin Mitte. Vor dem Veranstaltungssaal drängeln sich die Besucher. Zu viele für diesen Raum. Zusätzliche Stühle werden rangeschleppt, an den Türen und Seitenwänden bleibt kein einziger Stehplatz frei. DIE LINKE hat geladen zu einer dokumentarischen Lesung und einem Gespräch mit Zeitzeugen. Auf der prominenten Gästeliste stehen: Inge Heym, die Witwe des Schriftstellers, Rita Süßmuth, 1994 Bundestagspräsidentin, Hansjörg Geiger, der erste Direktor der Stasi-Unterlagenbehörde und Gregor Gysi, zum damaligen Zeitpunkt Chef der PDS-Gruppe im Bundestag. Rita Süßmuth – so Luc Jochimsen, selbst bis vor kurzem Abgeordnete in der Linksfraktion - musste absagen. Sie sei schwer erkrankt, bedaure, nicht persönlich mit Inge Heym in dieser öffentlichen Runde reden zu können, weil die Vorgänge von 1994 um die Rede des Alterspräsidenten Stefan Heym im Bundestag sie noch heute beschämten.

Was war passiert in den Stunden vor der Eröffnung des 13. Bundestages in Berlin? Bevor Stefan Heym als ältester Abgeordneter mit 81 Jahren mit seiner ganz eigenen Lebenserfahrung und Vision das Parlament in den politischen Alltag schicken konnte? Luc Jochimsen, von Hause aus Journalistin, trug das akribisch zusammen. Sie war in Archiven, las Artikel und Agenturmeldungen von Reuters bis dpa, verglich das alles mit den Notizen von Stefan Heym. Darüber hinaus sprach sie mit Beteiligten - mit Rita Süßmuth, CDU-Fraktion, Hansjörg Geiger, seit 1990 Direktor beim Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes, einem dpa-Journalisten.

Die Erinnerungen, die Zitate, die Tagebucheinträge – sie sind sämtlich authentisch und autorisiert – setzte Luc Jochimsen zu einem Mosaik zusammen. Die Einzelteile ergeben ein Bild, und sie lesen sich wie ein Krimi. Es beginnt mit dem 8. November 1994, zwei Tage vor der geplanten Heym-Rede im Bundestag. Ein Mitarbeiter der Zentralen Ermittlungsgruppe Regierungs- und Vereinigungskriminalität  (ZERV) verfasst einen Bericht über Kontakte der Stasi zu Stefan Heym. Es geht um den 1961 von der Stasi entführten Heinz Brandt. Er war Jude, Verfolgter, KZ-Häftling, machte nach dem Krieg politisch Karriere als KPD-, später SED-Mitglied, flüchtete 1958 nach Westberlin.

Stefan Heym erhält im gleichen Jahr einen hektographierten Bericht von Brandt. Den hält er für eine Fälschung und übergibt ihn über seine damalige Sekretärin der Kriminalpolizei. Der ZERV-Mitarbeiter Henkel wertet diesen Vorgang als Stasizuarbeit. Seine Interpretation der Vorgänge macht die Runde: zum Berliner Innensenator Heckelmann, von dort zum Bundesinnenminister Manfred Kanther und zu den Medien. Zitat Rita Süßmuth: „Ich bin am 9.11. vormittags informiert worden. Das schlug ein wie eine Bombe.“ Und was wurde von ihr erwartet? „Dass unter diesen Umständen die Rede des Alterspräsidenten Heym nicht stattfinden  könnte.“ Rita Süßmuth entscheidet sich gegen eine Vorverurteilung. Sie telefoniert mit Hansjörg Geiger, bittet um eine schnelle, solide Prüfung. Sie telefoniert mit Stefan Heym als Betroffenen. Sie faxt ihm die dünne Papierlage. Am Morgen des 10. November ist klar, das Gerücht war fahrlässig, die Vorwürfe haltlos.

Der Direktor der Stasi-Unterlagenbehörde informiert den Ältestenrat im Bundestag, dass Stefan Heym kein Stasiinformant war. Jeder der Abgeordneten hat das – wenn gewollt - zu Beginn der Parlamentssitzung wissen können. Stefan Heym hält seine weitsichtige Rede. Leise, wortstark, unaufdringlich. Sie hat bis heute, fast zwanzig Jahre danach, nichts an Auftrag und Aktualität verloren. Das bleibt von Stefan Heym und von diesem 10. November 1994 im öffentlichen Gedächtnis. Im öffentlichen Gedächtnis bleibt aber auch, dass die Abgeordneten der CDU/CSU-Fraktion dem deutschen Juden, dem Verfolgten, dem Ausgegrenzten demonstrativ die Ehre verwehrten und sich nicht von den Plätzen erhoben als der älteste Abgeordnete unter ihnen zur Eröffnungsrede antrat.