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Boykott hilft den Menschen in Tibet nicht

Interview der Woche von Michael Leutert,

Michael Leutert ist menschenrechtspolitischer Sprecher der Fraktion DIE LINKE

2008 jährt sich die Menschensrechtserklärung der Vereinten Nationen zum sechzigsten Mal. Wie stellt sich die Lage der Menschenrechte heute dar?

Sicherlich spielen Menschenrechte in der gesellschaftlichen Diskussion und damit in der öffentlichen Wahrnehmung eine viel größere Rolle als früher. Auch international haben sie institutionell ein größeres Gewicht, wofür unter anderem der 2006 gegründete UN-Menschenrechtsrat steht. Zugleich lässt sich nach Meinung DER LINKEN daran aber eine Grundproblematik ablesen: Mehrere Länder, unter ihnen die USA, haben gegen die Einrichtung des Rats gestimmt oder sich der Stimme enthalten. Dies zeigt, wie stark die Menschenrechte weiterhin von den Machtinteressen einzelner Staaten abhängig sind oder gar für konkrete politische Zwecke instrumentalisiert werden.
Ob die Genitalverstümmelung von Mädchen und Frauen, die Todesstrafe, Kinderarbeit, das US-Gefangenenlager Guantanamo, oder die Unterdrückung von Minderheitenrechten - schon diese willkürliche Auswahl zeigt: Das Thema Menschenrechte hat nichts an Aktualität und Dringlichkeit verloren.

Welche Grundsätze verfolgt DIE LINKE in ihrer Menschenrechtspolitik?

Natürlich ist es als Oppositionskraft in erster Linie unsere Funktion, die Regierung nicht aus ihrer Verantwortung zu entlassen und sie immer wieder darauf hinzuweisen, wenn sie Menschenrechtsthemen vernachlässigt oder einseitig Partei ergreift. Zugleich hat gerade DIE LINKE die Aufgabe, sich nicht mit einfachen Sichtweisen zufrieden zu geben, die den oftmals komplexen Problemen nicht gerecht werden können. Dafür ist es wichtig, sich mit Menschen aus den jeweiligen Staaten und mit NGOs auszutauschen sowie sich - da wo es geht - direkt vor Ort zu informieren. Oftmals ist es möglich, darüber öffentliche Aufmerksamkeit herzustellen oder zu verstärken. Aus diesem Grund halte ich an meinem Plan fest, das US-Gefangenenlager Guantanamo zu besuchen, und hoffe, dass dies unter einer neuen US-Regierung endlich möglich sein wird.

Aktuell wird intensiv über China und die Lage in der Region Tibet diskutiert. Wie bewerten Sie die Situation dort?

Es steht außer Frage, dass wir die gegenwärtige Politik Chinas kritisieren. Die chinesische Führung setzt zurzeit auf autoritäre und polizeistaatliche Mittel zur Eindämmung der Proteste. Diese sind nicht geeignet, um gesellschaftliche Konflikte zu lösen, weil sie deren Ursachen nicht beseitigen. Zugleich ist festzustellen, dass die chinesische Führung anders reagiert als bei früheren Konflikten und die langfristigen Folgen ihrer Tibet-Politik nicht aus dem Auge verliert. Dies ist nicht die Zeit, um auf diplomatische Mittel leichtfertig zu verzichten. Handlungen und Forderungen, die darauf hinauslaufen oder gar die territoriale Integrität Chinas in Frage stellen, wirken in dieser Situation eher noch eskalierend. Dass Frau Merkel den Dalai Lama im vergangenen Jahr im Bundeskanzleramt empfangen hat und damit das Treffen faktisch zum Staatsbesuch aufgewertet hat, kritisieren wir deshalb ebenso. In dieser Frage hätte sie ausnahmsweise sogar von Bush lernen können, der den Besuch im privaten Bereich des Weißen Hauses empfangen hat.

Die Grünen fordern einen Olympiaboykott. Kann damit etwas erreicht werden?

Wir lehnen einen Boykott der Spiele, aber auch einen Wirtschaftsboykott ab, weil sie ein Zeichen von Konfrontation sind, die nicht zur Suche nach einer politischen Lösung des Konflikts beitragen können.
Ein Boykott ist eine Sanktion, er ist die klare Botschaft, dass der Dialog beendet ist. Wohin soll das führen? Bereits die Olympischen Spiele 1980 in Moskau und 1984 in Los Angeles haben gezeigt, dass aus einem Olympia-Boykott keinerlei positive Folgen in der jeweiligen politischen Situation daraus hervorgehen. Im Gegenteil: In beiden Fällen waren sie lediglich ein Ausdruck der herrschenden Sprachlosigkeit. Wenn die Grünen jetzt erneut die wohlfeile Forderung nach einem Boykott erheben, sollen sie bitte erklären, wie sie damit den Menschen in Tibet helfen wollen.

Welchen Weg schlägt DIE LINKE vor, um eine politische Lösung zu erzielen?

Auf bilateraler und internationaler Ebene bestehen unterschiedliche Möglichkeiten zur Einflussnahme wie der deutsch-chinesische Rechtsstaatsdialog oder der EU-Menschenrechtsdialog. Auch die Arbeit der deutschen Parteienstiftungen und des Goetheinstituts kann einen Beitrag dazu leisten, den deutsch-chinesischen Austausch über Menschenrechtsfragen zu intensivieren.
Insbesondere der deutsch-chinesische Rechtsstaatsdialog ist bereits gut institutionalisiert. Sein Vorteil ist die grundsätzliche Ergebnisoffenheit. Das ermöglicht die vertiefte Erörterung der Probleme einer modernen Gesetzgebung, auch ihrer Umsetzung in der Praxis. Der in der chinesischen Verfassung ohnehin fixierte Autonomiestatus Tibets kann im Rechtsstaatsdialog genauer erörtert werden, und zwar hinsichtlich Inhalt und Grenzen sowie der wirksamen Implementierung autonomer Regelungsbereiche in der gesellschaftlichen Praxis.
Gerade die große internationale Aufmerksamkeit, die der Region Tibet aufgrund der Olympischen Spiele in Peking zuteil wird und die China nicht egal sein kann, bietet hierfür gute Voraussetzungen. DIE LINKE sieht darin eine Chance, um auf China einzuwirken, damit die kulturellen Traditionen der Menschen in der Region Tibet geschützt werden und eine dauerhafte Perspektive haben.

linksfraktion.de, 1. April 2008