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Foto: Rico Prauss

Bleiben wir bei Marx!

Im Wortlaut von Dietmar Bartsch,

Von Dietmar Bartsch, stellvertretender Vorsitzender der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag
 
 


"… es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen nach all den Jahren der Stagnation, der geistigen, wirtschaftlichen, politischen; den Jahren von Dumpfheit und Mief, von Phrasengewäsch und bürokratischer Willkür, von amtlicher Blindheit und Taubheit." Stefan Heym sagte das auf der legendären Kundgebung am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz. Fünf Tage später fiel die Mauer, der weitere Gang der Geschichte ist bekannt.
 
Dreiundzwanzig Jahre nach dem Untergang der DDR streiten DIE LINKE und ihre Bundestagsfraktion unbeirrt für die Interessen der Ostdeutschen und eine ausgewogene Wertung der Vergangenheit. Nostalgie? Unbelehrbarkeit? Oder – um in der Diktion dieser Serie zu bleiben – gar Systemgefährdung?
 
Zunächst einmal handelt es sich um den Einsatz für einen Auftrag, den das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland stellt: Die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im gesamten Staatsgebiet. Jeder Sozialatlas, jede Karte der Reichtumsverteilung einerseits oder der Arbeitslosigkeit andererseits widerspiegelt scharf die Grenzen der alten Bundesrepublik und der DDR. In Ost und West werden nach wie vor unterschiedliche Renten und Löhne gezahlt, Letzteres nicht selten mit der Billigung von Gewerkschaften. Eine andauernde Teilung Deutschlands ist ebenso tägliche Realität wie praktiziertes Regierungshandeln. Mit einer Politik des Spaltens endlich Schluss zu machen, fordert DIE LINKE. Das ist systemrelevant.
 
Systemrelevant ist auch, wenn eine ganze Region – Ostdeutschland – zum Experimentierfeld für Sozial- und Demokratieabbau wird. Natürlich ist es so, dass auch westlich der Elbe nicht wenige Kommunen am Hungertuch nagen, dass es einzelnen Städten und Gemeinden im Westen erheblich schlechter geht als einzelnen im Osten. Irrational und gefährlich allerdings wird es, wenn die wirklichen Relationen ignoriert werden und gefolgert wird, nun müsse der Westen die größeren Kuchenstücke abbekommen, wie es einige Oberbürgermeister in Nordrhein-Westfalen vor der dortigen Landtagswahl (!) getan haben.
 
Die Anerkennung von Lebensleistungen ist enorm wichtig für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Die Delegitimierung der DDR als Staatsdoktrin stellt Lebensleistungen in Frage. Ehrlicherweise muss ich hinzufügen, dass es auch in unserer Partei einigen schwer fällt, den Ostdeutschen einen Erfahrungsvorsprung zuzubilligen. Auch die Westdeutschen hätten in den vergangenen zwanzig Jahren gewaltige Veränderungen erlebt, wurde mir neulich entgegengehalten. Stimmt, nur gelangten sie nicht von einem Tag zum anderen in ein anderes Land, in ein anderes gesellschaftliches System! Warum die Scheu, denjenigen einen Vorsprung an Erfahrungen zuzubilligen, die solche in zwei Systemen und bei einem Systemwechsel gesammelt haben?! Warum so wenig Bereitschaft, gute Erfahrungen aufzugreifen in Bildung, Kinderbetreuung und Gesundheitswesen, in  der Stadtentwicklung, bei der Konversion oder bei der Erschließung erneuerbarer Energien?! Dabei, um das klarzustellen, geht es vor allem um Ost-Erfahrungen, die in den letzten zwanzig Jahren gesammelt wurden.
 
Das uralte Prinzip "divide et impera", teile und herrsche, bestimmt jedoch weiter das Handeln der Herrschenden: Ost gegen West, Leiharbeiter gegen Festangestellte, Hartz IV-Beziehende gegen Asylsuchende. Was zeitweilig Systeme stabilisieren mag, ist ausgrenzend, demokratiefeindlich, menschenverachtend. Es ist nicht zukunftsfähig!
 
Wir von der LINKEN wollen einen gänzlich anderen Weg und haben uns die soziale Gerechtigkeit auf die Fahnen geschrieben. Wir wollen für Werte und Ziele, für eine Politik stehen, die die Gesellschaft nicht spaltet, sondern eint. Unsere Konzepte werden die Reichen nicht an den Bettelstab, aber mehr Reichtum für alle bringen.
 
Es ist zwingend nötig, hier und jetzt Verbesserungen für die Bevölkerung anzustreben und für ein solidarisches und stabiles Miteinander in der Gesellschaft zu wirken. Ich kann darin nichts Verwerfliches sehen, wenngleich ich weiß, dass für einige Linke solches, letztlich die gesellschaftliche Stabilität förderndes Denken und Handeln schwer akzeptabel ist. Es mache nur Sinn Bürgersteige zu begradigen, wenn man auch fähig sei, diese zu besetzen, las ich unlängst in einem Debattenbeitrag über LINKE Kommunalpolitik. Ein solches Herangehen stößt hoch engagierte Mitglieder und Parteilose vor den Kopf und Wählerinnen und Wähler ab. Da habe ich ein deutlich anderes Verständnis von Kommunalpolitik im Konkreten und von Politikfähigkeit im Allgemeinen. Allerdings darf unser Tun weder von Illusionen über das Machbare geleitet sein noch im aktuell Machbaren verharren. In der PDS haben wir von einem sogenannten strategischen Dreieck gesprochen, das eine gestaltende Politik mit dem Widerstand gegen Missstände und programmatischen Alternativen, die über den Tag hinausweisen, verbindet. Das halte ich weiter für einen guten Ansatz.
 
Zurück zur Rede von Stefan Heym. Der blickte im Herbst ´89 auf dem Berliner Alexanderplatz nicht nur zurück, sondern auch nach vorn, und sprach die Hunderttausenden an als die, "… die Ihr Euch aus eigenem freien Willen versammelt habt, für Freiheit und Demokratie und für einen Sozialismus, der des Namens wert ist." Freiheit, Demokratie und diesen des Namens werten Sozialismus müssen wir auf der Tagesordnung behalten – als Systemveränderung! Bleiben wir also bei Marx: Es kommt darauf an, die Welt zu verändern!

linksfraktion.de, 12. November 2012

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