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Angst durch Besonnenheit überwinden

Im Wortlaut von Yvonne Ploetz,

Von Yvonne Ploetz

Ich war 16 Jahre alt. Die Anschläge in New York und Washington, die Flugzeugentführungen schockierten mich. Die Unmittelbarkeit der Bilder im Fernsehen, die beiden einstürzenden Hochhaustürme, die Flugzeuge, die in sie krachten, der aufsteigende Rauch. Gleichzeitig erschien dies alles derart irreal, dass ich nicht glauben mochte, dass dies wirklich geschah. Die langsam einstürzenden Bauten erinnerten mich vielmehr an Action-Filme, in denen mittels Slow Motion noch die krudesten Gewaltphantasien der Hollywood-Autoren ästhetisiert werden.

Die Flut der Bilder, die ich heute zehn Jahre danach im Fernsehen sehe, bringen in dieser Hinsicht nicht viel Neues. Die Bilder verblassen nicht. In der Zwischenzeit bin ich zehn Jahre älter und der Abstand zu den Ereignissen ist größer geworden. Bereits kurz nach dem 11. September drohte das Leid der Opfer der Anschläge im aufziehenden Kriegsgeschrei unterzugehen. Der Tag selbst bildet den tragischen Auftakt in einer langen Folge von Gewalt und Gegengewalt, Kriegen, Toten und Verletzten.  

Die brachiale Gewalt der Anschläge und ihre mediale Übertragung in Echtzeit haben eine merkwürdige Unmittelbarkeit, ein Gefühl der Verletzbarkeit geschaffen. Und sie haben das Selbstverständnis des Westens nach dem Ende der Blockkonfrontation tief erschüttert. Auf dem eigenen Gebiet der letzten imperialen Großmacht wurden mit den Zwillingstürmen des World Trade Centers zentrale Symbole des Westens angegriffen, die bis heute Fortschritt, technische Machbarkeit und den freien Handel repräsentieren. Sofort wurde dem vermeintlich Guten, das da attackiert wurde, ein anderes gegenübergestellt, das bekämpft werden musste. Die westliche Zivilisation und die Solidarität der Willigen wurden rhetorisch gegen eine Achse des Bösen und der Barbarbei in Stellung gebracht. Insofern bildet der 11. September einen Einschnitt. Eine Teilung der Menschheit in Gut und Böse, Freund und Feind, Schwarz und Weiß, griff allerorten um sich. Die Dichotomien haben Vernunft und Besonnenheit überwältigt. Es wäre an der Zeit gewesen, inne zu halten, zu trauern und gewissenhaft das künftige Handeln abzuwägen. Stattdessen haben Gewalt und Terror bei vielen Angst und Hysterie ausgelöst und sie zu Getriebenen gemacht.

Ein Zyklus von Krieg und Gewalt wurde entfacht. Es wurden die Bürgerrechte weltweit untergraben und Menschen zu Sündenböcken erklärt, weil sie anderen Glaubens oder anderer Herkunft sind. Dies ist immer noch real. Dies gehört meiner Überzeugung nach mit dazu, wenn man von diesen Anschlägen redet. Grundlegender Korrekturbedarf ist hier angebracht.

Die Eingriffe in die Bürgerrechte, die wir seit den 11. September erleiden müssen, sind tief und umfassend. Man denke nur an die Übermittlung von Flugdaten, die überdehnten Befugnisse der Sicherheitsbehörden in den Antiterrorgesetzen, die Verwischung der Grenzen zwischen Polizei und Geheimdiensten, die Erweiterung des politischen Strafrechts mittels des  Paragraph 129b, den Fall Kurnas etc. Die institutionalisierte Gewalt macht sich über die Bürgerrechte her und beschränkt dabei vieles von dem, was das Leben in unserer Gesellschaft überhaupt erst lebenswert macht.    

Krieg, wie in Afghanistan und Irak, gehört seit dem 11. September wieder in unser aller Alltag – ungeachtet der verheerenden Folgen. Auch sitzen die Ängste vor angeblich Fremdem seit dem 11. September wieder tiefer. Mit antimuslimischem Rassimus lässt sich mittlerweile munter Politik betreiben. Hört man Menschen vom Schlage eines Tilo Sarrazin, dann bekommt man leicht den Eindruck, als könne ein Stück Kopftuch bereits die menschliche Zivilisation ins Wanken bringen. Als gäbe es nichts voneinander zu lernen, als wäre Vielfalt nicht ein unbedingter Gewinn. Als würden wir nicht alle schon seit Jahrzehnten erfolgreich neben- und miteinander leben.

Glücklicherweise geht es auch anders. Das haben mir die Tage nach den Anschlägen in Oslo bewiesen. Obwohl ein christlicher Fundamentalist über 80 Menschen töte, dabei fast 70 Jugendliche eines Sommerlages der norwegischen Jungsozialisten, waren nicht Hass und Rache die verbreitete Stimmung. Stattdessen wurde offen Gefühl gezeigt und getrauert. Das hat mich sehr bewegt. Wir können daraus lernen. Angst kann man nicht durch Krieg, Hass und Schrecken überwinden, sondern nur durch Besonnenheit. Die Furcht vor Anschlägen darf uns nicht von den riesigen Aufgaben ablenken, die vor uns liegen.

linksfraktion.de, 7. September 2011