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Jutta Krellmann im Deutschen Bundestag | Foto: © Alexander KlebeFoto: Alexander Klebe

Anerkennung von Berufskrankheiten – ein Weg mit vielen Hürden

Im Wortlaut von Jutta Krellmann,

Bleibende Gesundheitsschäden, die jemand durch seine Arbeit davonträgt, können als Berufskrankheit anerkannt werden. Im günstigsten Fall erhalten Betroffene eine Rente als Entschädigung. Doch der Weg zur Anerkennung ist voller Hürden und nur wenigen gelingt es, sie zu überwinden. Die aktuelle Reform der Bundesregierung wird daran wenig ändern. 

Gastbeitrag von Jutta Krellmann, erschienen am 12. März 2020 in der Online-Ausgabe der Wochenzeitung "freitag"

Längst nicht jede Krankheit, die durch die Arbeit bedingt ist, ist auch eine Berufskrankheit. Seit fast hundert Jahren gilt in Deutschland das Prinzip: Nur das, was auf der sogenannten Berufskrankheiten-Liste steht, kann auch entschädigt werden. Derzeit ist das nur bei 80 Krankheiten der Fall. Denn das deutsche Berufskrankheiten-System ist noch fest in der industriellen Arbeitswelt verhaftet. Zu den Klassikern auf der Liste der Berufskrankheiten zählen die Staublunge bei Bergleuten oder Asbesterkrankungen bei Werftarbeitern. Psychische Erkrankungen wie Burnout sucht man vergebens.

Für die Entschädigung von Berufskrankheiten ist die gesetzliche Unfallversicherung zuständig. Anders als die Kranken- oder Rentenversicherung wird dieser Zweig der Sozialversicherung nur durch die Arbeitgeber finanziert. Diese haben ein Interesse an niedrigen Beiträgen und deshalb ein Auge darauf, dass die Auszahlungen an Versicherte möglichst gering bleiben. Wird eine Berufskrankheit nicht als solche anerkannt, werden die Kosten auf andere Zweige der Sozialversicherung oder die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler abgewälzt. Dadurch wird das Grundprinzip bei den Berufskrankheiten „Wer verursacht, zahlt“ – und das sind bei arbeitsbedingten Erkrankungen die Arbeitgeber – systematisch unterlaufen. Ein Anreiz für Prävention zu sorgen entsteht so natürlich nicht.

Halbherzige Reform

Nach 20 Jahren gibt es endlich wieder eine Reform bei den Berufskrankheiten, die auch Verbesserungen für Betroffene bringt. Gewerkschaften, Sozialverbände und auch die Bundesländer dringen seit Jahren darauf. Die bedeutendste Neuerung ist, dass der sogenannte Unterlassungszwang wegfällt. Ausgerechnet für einige der häufigsten Berufskrankheiten, wie Hautkrankheiten und Rückenleiden, gilt diese viel kritisierte Regelung. Bislang müssen Betroffene ihre Arbeit aufgeben, um eine Chance auf Anerkennung zu bekommen. Die überwiegende Mehrzahl der Beschäftigten entschied sich aufgrund der Unsicherheit bisher dagegen, ihre Chancen auf Anerkennung werden zukünftig steigen. Aber trotz dieser Verbesserung bleiben auch nach der Reform zu viele Hürden bestehen. Als Linke haben wir viele Vorschläge, um die Hindernisse weiter abzubauen.

Berufskrankheiten-Liste an die moderne Arbeitswelt anpassen

Die deutsche Berufskrankheiten-Liste ist noch nicht im 21. Jahrhundert angekommen. Die neuen Volkskrankheiten, die sich in einer beschleunigten Arbeitswelt rasant ausbreiten, wie psychische Erkrankungen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen, sind völlig außen vor. Oft dauert es viele Jahre, bis eine Krankheit neu aufgenommen wird. Das gilt es unbedingt zu beschleunigen, indem mehr unabhängige Forschung finanziert wird. Es ist zu klären, inwiefern bestimmte arbeitsbedingte Erkrankungen, wie die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), durch Mobbing am Arbeitsplatz verursachte Krankheiten, arbeitsbedingte Depression oder Burnout, in die Berufskrankheiten-Liste aufgenommen werden können.

Was auf die Liste kommt, darüber entscheidet ein ärztlicher Sachverständigenbeirat (ÄSVB). Dieser soll durch die aktuelle Reform erstmals gesetzlich verankert werden. Doch die Bundesregierung versäumt es, hier Fachrichtungen jenseits der klassischen Arbeitsmedizin einzubeziehen. Es ist nicht nachvollziehbar, warum kein psychologischer oder arbeitswissenschaftlicher Sachverstand hinzugezogen wird. Zukünftig soll eine Geschäftsstelle bei der Bundesanstalt für Arbeitsschutz- und Arbeitsmedizin die Arbeit des ÄSVB unterstützen. Es ist allerdings zweifelhaft, ob die Ressourcen dieser Geschäftsstelle ausreichen, um die deutsche Berufskrankheiten-Liste an internationale Standards heranzuführen.

Auch ignoriert die Bundesregierung die berechtigte Forderung von Gewerkschaften und Sozialverbänden nach einem sozialpolitischen Ausschuss. Ein solcher würde die Arbeit des ÄSVB ergänzen und über neue Berufskrankheiten mitentscheiden. Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände und die Länder als Vertreter des staatlichen Arbeitsschutzes könnten hier mitbestimmen. Über Sozial- und Betroffenenverbände könnte die Perspektive der Versicherten eingebracht werden. 

Faire Anerkennung

In Deutschland wird lediglich ein Viertel der angezeigten Berufskrankheiten anerkannt. Etwa 80 000 Anzeigen im Jahr stehen nur knapp 20 000 Anerkennungen gegenüber. Nur sechs Prozent werden mit einer Rente entschädigt. Die überwiegende Zahl der berufsbedingten Erkrankungen wird gar nicht erst angezeigt, weil Betroffene ihr Recht nicht kennen oder sich nur geringe Chancen auf Anerkennung ausrechnen. Um hier etwas zu ändern, müssen zunächst transparente und faire Verfahren garantiert werden. Dafür brauchen die Betroffenen mehr Unterstützung durch unabhängige Beratungsstellen. In Hamburg und Bremen arbeiten solche Beratungsstellen bereits erfolgreich, in Berlin wird gerade eine aufgebaut. Wichtig ist, dass die Beratungsstellen staatlich finanziert sind, um unabhängig von der Unfallversicherung agieren zu können. Denn in der Unfallversicherung besteht ein grundsätzlicher Interessenkonflikt. Einerseits soll sie faire Verfahren für ihre Versicherten garantieren, andererseits muss sie ihnen im Erfolgsfall viel Geld auszahlen. Steigende Auszahlungen führen zu steigenden Beiträgen für die Arbeitgeber. Es gibt deshalb eine starke Lobby für hohe Hürden bei der Anerkennung von Berufskrankheiten.

Gutachten stellen ein Nadelöhr im Berufskrankheiten-Verfahren dar. Sie müssen positiv für die Betroffenen ausfallen, damit sie eine Entschädigung bekommen. Vielfach wird die Abhängigkeit der  Gutachtachterinnen und Gutachter von der Unfallversicherung kritisiert, weswegen ein objektives Gutachtenwesen zwingende Voraussetzung für faire Berufskrankheiten-Verfahren ist. Es ist erforderlich, die Kriterien, nach denen Gutachten erstellt werden, offenzulegen. Außerdem muss ausgeschlossen werden, dass Gutachterinnen und Gutachter finanziell abhängig von der Unfallversicherung sind. Darüber hinaus ist eine Härtefallregelung im Berufskrankheitenrecht dringend erforderlich, um mehr Einzelfallgerechtigkeit herzustellen. Dadurch können auch Krankheiten anerkannt werden, die nicht auf der Berufskrankheiten-Liste stehen. Sie muss insbesondere für sehr seltene Krankheiten gelten und für solche, die auf mehrere Ursachen zurückgehen. Häufen sich anerkannte Härtefälle in Bezug auf eine Krankheit oder eine Krankheiten-Konstellation, ist diese Krankheit in die Berufskrankheiten-Liste aufzunehmen

Mehr Arbeits- und Gesundheitsschutz

Am besten ist es, wenn Berufskrankheiten gar nicht erst entstehen. Deshalb brauchen wir mehr Prävention und Arbeitsschutz. Beschäftigte müssen bezahlt freigestellt werden, um an Präventionsmaßnahmen teilnehmen zu können. Diese müssen auch abgebrochen werden können, wenn sie wirkungslos bleiben. Aber in erster Linie sind beim Arbeitsschutz die Arbeitgeber in der Pflicht. Damit sie sich nicht drücken können, muss es wieder flächendeckende Arbeitsschutzkontrollen geben. Heute wird im Durchschnitt jeder Betrieb nur noch alle zwanzig Jahre kontrolliert. Das führt zu dem unhaltbaren Zustand, dass lediglich in jedem zweiten Betrieb eine Gefährdungsbeurteilung durchgeführt wird und nur in jedem fünften Betrieb dabei psychische Belastungen einbezogen werden – obwohl dies eigentlich gesetzlich für alle Betriebe verpflichtend ist. Um dies zu ändern, brauchen die Arbeitsaufsichten der Bundesländer dringend mehr Personal. Auch gibt es inzwischen viel zu wenig Gewerbeärztinnen und -ärzte in den Ländern, die für die Überwachung der Berufskrankheiten-Verfahren zuständig sind. Ihre Anzahl ist in den letzten zehn Jahren um über 40 Prozent zurückgegangen. Um den dringend erforderlichen Nachwuchs zu gewinnen, müssen wieder mehr Arbeitsmedizinerinnen und -mediziner ausgebildet werden. Die Arbeitsmedizin in Deutschland ist stark überaltert, mehrere Lehrstühle sind in den letzten Jahren an den Hochschulen weggefallen. Hier gilt es gegenzusteuern.

Als Linke werden wir gute Vorschläge auf den Tisch legen, wie die Hürden bei der Anerkennung von Berufskrankheiten abgebaut werden könnten. Dazu werden wir einen eigenen Antrag (PDF) in den Bundestag einbringen. Es ist an der Bundesregierung, diese Ideen im Interesse der Betroffenen aufzugreifen.