Zum Hauptinhalt springen

»Akademiker für den Frieden« stehen vor Gericht

Im Wortlaut von Sevim Dagdelen,


 

Von Sevim Dagdelen, Sprecherin für Internationale Beziehungen der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag


In den türkischen Gerichten geht es Schlag auf Schlag. Gnadenlos geht Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan gegen seine Kritiker vor. In Istanbul beginnt am 22. April der politische Prozess gegen die "Akademiker für den Frieden". Ihr "Verbrechen": Sie haben im Januar eine Online-Petition unterzeichnet, die das Vorgehen der türkischen Regierung in den kurdischen Gebieten kritisiert. Sie fordern ein Ende des Militäreinsatzes und des "Massakers" an den Kurden in Diyarbakir-Sur, Silvan, Nusaybin, Cizre, und Silopi. Die Städte standen damals seit einem Monat unter Ausgangssperre.

Der von mehr als 1.000 Wissenschaftlern unterzeichnete Appell wirft der der türkischen Führung vor, eine "Vernichtungs- und Vertreibungspolitik" zu betreiben. Die Unterzeichner rufen zur Wiederaufnahme des Friedensprozesses mit den Kurden auf.

Zuviel für Erdogan. Der türkische Präsident beschimpfte die Intellektuellen als "Landesverräter" und als "Bande, die sich selbst Akademiker nennt". Regierungsnahe Zeitungen erklärten sie zu "Kollaborateuren der PKK" und veröffentlichten Namen und Fotos. Bis dato haben Universitätsleitungen und Staatsanwälte 600 Disziplinarverfahren eingeleitet. Wohnungen und Büros wurden durchsucht. Mehr als 30 Wissenschaftler wurden festgenommen. Den Anklagen in Istanbul wirft die Staatsanwaltschaft unter anderem "Propaganda für eine Terrororganisation" vor. Ihnen drohen bis zu fünf Jahre Haft.

Der Strafprozess findet unter den Augen der internationalen Öffentlichkeit statt. Wissenschaftler aus der ganzen Welt haben sich mit ihren verfolgten Kollegen in der Türkei solidarisch erklärt. Ich beobachte für die Bundestagsfraktion DIE LINKE den ersten Prozesstag in Istanbul.

Zuvor begleite ich Can Dündar und Erdem Gül zu ihrem dritten Prozesstag zum Gericht. Der Chefredakteur der Tageszeitung "Cumhuriyet" und der Leiter des Hauptstadtbüros sind angeklagt, weil sie ihre Arbeit gemacht und verdeckte Waffenlieferungen des türkischen Geheimdienstes MIT an Islamistengruppen in Syrien aufgedeckt haben. Das Kriegsgerät war in Lastwagen mit Hilfsgütern unter Babynahrung versteckt und bei einer Razzia lokaler Behörden gefunden worden. Die Unterstützer islamistischer Terrorgruppen müssen sich in dem NATO-Mitgliedsland nicht vor Gericht verantworten. Stattdessen sind die beiden Journalisten wegen Spionage, der Preisgabe von Staatsgeheimnissen, der Vorbereitung eines Staatsstreichs und der Beihilfe zur Bildung einer terroristischen Vereinigung angeklagt. Ihnen droht lebenslange Haft. Präsident Erdogan und der MIT sind als Nebenkläger zugelassen worden, die Öffentlichkeit ist von der Verhandlung ausgeschlossen.

Vergeblich hatten Dündar, Gül und alle anderen freiheits- und friedliebenden Menschen in der Türkei auf kritische Worte aus Berlin und Brüssel gehofft. "Über die ansonsten stets aktuelle Frage der Demokratisierung verlor man auf der Pressekonferenz nach Abschluss des EU-Türkei-Gipfels kein Wor", kritisierte Dündar im Spiegel.

Sedat Ergin, Chefredakteur der türkischen Tageszeitung "Hürriyet", wird in diesem Jahr mit dem "Freedom of Speech Award" der Deutschen Welle ausgezeichnet. In seiner Heimat ist er wegen "Beleidigung" des Präsidenten angeklagt. Seine düstere Bestandsaufnahme über die Zustände beim EU-Beitrittskandidaten: "Im Jahr 2016 sind die Flure in den Gerichtsgebäuden und die Gerichtssäle die Heimat von türkischen Journalisten geworden. Die Pressefreiheit in der Türkei ist 2016 auf die Gerichtsflure begrenzt."

linksfraktion.de, 22. April 2016