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Abrissbirne für Arbeitsmarktpolitik in der EU

Nachricht von Sabine Zimmermann,

Seit Jahren steigt in vielen EU-Mitgliedsländern die Arbeitslosigkeit. Dennoch wird dort Geld für die aktive Arbeitsmarktpolitik zusammengestrichen. Gleichzeitig hält die Zahl der Arbeitslosen, die Einkommensunterstützung erhalten, nicht mit dem Anstieg der Arbeitslosigkeit Schritt. Davon besonders betroffen sind die stark von der Finanzkrise betroffenen Länder. Das zeigen Berechnungen auf Grundlage einer aktuellen Antwort der Bundesregierung.

14,5 Prozent mehr Arbeitslosigkeit, doch nur 1,2 Prozent mehr Beziehende von Unterstützungsleistungen und nur 0,6 Prozent mehr Ausgaben für Arbeitsmarktpolitik

In den 15 EU-Ländern, in denen die Arbeitslosigkeit zwischen 2009 und 2011 gestiegen ist und für die entsprechende Daten vorliegen, hat die Arbeitslosigkeit um knapp 2 Millionen Menschen oder 14,5 Prozent zugenommen. Im selben Zeitraum stieg aber die Zahl der arbeitslosen Personen, die Einkommensunterstützung beziehen, nur um 110.00 oder 1,2 Prozent. Ein großer Teil der Arbeitslosen fällt offenbar durch das soziale Netz. Zugleich sind die Ausgaben dieser Länder für Arbeitsmarktpolitik kaum gewachsen. Zwischen 2009 und 2011 wurden nur um 881 Millionen oder 0,6 Prozent mehr Euro aufgewendet.

„Möglicherweise entsteht eine Versorgungslücke“

Diese Entwicklung ist besorgniserregend. Die Arbeitslosigkeit steigt, die Systeme der sozialen Sicherung greifen nicht. Die Systeme können nicht konjunkturstabilisierend wirken und die Betroffenen fallen ins Bodenlose. Dieses Problem ist bereits im Frühjahr dieses Jahres in der Vorbereitung der Tagung der europäischen Regierungschefs zur Sprache gekommen, hat aber keinerlei verbindliche Konsequenzen nach sich gezogen. In einem Bericht an den Rat der Europäischen Union stellte der Ausschuss für Sozialschutz der Europäischen Kommission im Februar dieses Jahres fest, dass „in einigen Mitgliedstaaten die Zunahme der Arbeitslosigkeit nicht immer mit einem entsprechenden Anstieg der Zahl der Leistungsempfänger einhergeht, was möglicherweise eine Versorgungslücke zur Folge hat.“

Verbindliche Festlegungen für sozialen Kurswechsel in Europa nötig

Die Regierungschefs und die EU-Kommission bleiben wider besseres Wissen untätig. In dem Vorschlag der EU-Kommission zu einer Sozialen Dimension der EU, der Anfang Oktober unterbreitet wurde, fehlen jegliche verbindliche Festlegungen. Wir brauchen in den Krisenländern mehr, nicht weniger aktive Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik. Wenn soziale Sicherung und Arbeitsförderung dem Sparkurs zum Opfer fallen, wird Millionen Menschen die Existenzgrundlage geraubt und die Krise vertieft. Frau Merkel muss sich den Vorwurf gefallen lassen, dass sie mit ihrer Krisenpolitik den Ländern diesen Kurs aufgedrückt hat. Damit fördert sie antieuropäische Ressentiments. Diese Europapolitik darf nicht fortgeführt werden. Statt Absichtserklärungen brauchen wir verbindliche Festlegungen für einen sozialen Kurswechsel in Europa.

Analyse der Entwicklung

Wie groß das Problem der Kluft zwischen der steigenden Arbeitslosigkeit und dem Hinterherhinken der Arbeitsmarktpolitik ist, zeigt sich, wenn man sich die jeweiligen Länder konkret anschaut:

In Spanien stieg beispielsweise die Arbeitslosigkeit zwischen 2009 und 2011 um 450.000 oder 20,5 Prozent an. Im selben Zeitraum nahm aber die Zahl der Erwerbslosen, die Einkommensunterstützung beziehen, nur um 164.428 oder 6,1 Prozent zu, während insgesamt die Ausgaben für arbeitsmarktpolitische Maßnahmen sogar um 1 Milliarde Euro oder 2,5 Prozent sanken.

In Irland nahm von 2009 bis 2011 die Zahl der Arbeitslosen um 49.000 oder 18,3 Prozent zu, die Zahl der Erwerbslosen, die Unterstützungsleistungen erhielten, dagegen nur um 26.196 oder 6,5 Prozent. Die Ausgaben für Arbeitsmarktpolitik wuchsen nur geringfügig um 2,4 Prozent.

In Portugal zeigt sich die Entwicklung noch dramatischer: Einem Anstieg der Arbeitslosigkeit von 124.000 oder 21,3 Prozent steht ein Rückgang der unterstützten Erwerbslosen von 30.625 oder 9,1 Prozent gegenüber. Bei den aufgebrachten Geldern für Arbeitsmarktpolitik steht ein Minus von 5,8 Prozent.

In Bulgarien stieg die Arbeitslosigkeit um 136.000 oder 56,7 Prozent. Die Zahl der Arbeitslosen mit Einkommensunterstützung sank dagegen sogar um 55.648 oder 29,6 Prozent.

Ursachen: Prekäre Beschäftigung und tiefe Einschnitte in soziale Sicherungssysteme

Die Ursachen für diese dramatische Entwicklung dürften auf zwei wesentliche Faktoren zurückgehen. Zum einen erlangen viele Menschen aufgrund prekärer Beschäftigung und kurzfristigen Jobs und Soloselbständigkeit keinen Zugang zu den nationalen Sicherungssystemen bei Arbeitslosigkeit. Zum anderen gab es tiefe Einschnitte in die sozialen Sicherungssysteme oder waren diese bereits zuvor so schlecht ausgebaut, sodass viele durch das Netz fallen.

Gesamtbild in der EU

Betrachtet man die gesamten EU-Mitgliedsländer, stieg die Arbeitslosigkeit von 2009 bis 2011 um 1,7 Millionen auf 23,4 Millionen. Das entspricht einem Plus von etwa 8 Prozent. Trotz dieses Anstiegs nahm die Zahl der Erwerbslosen, die Einkommensunterstützungen wie Arbeitslosengeld erhalten, um 1,6 Millionen oder 10,6 Prozent ab. Zugleich sanken im selben Zeitraum die Ausgaben der EU-Mitgliedsländer für Arbeitsmarktpolitik um 10,8 Milliarden Euro oder 4,4 Prozent. Bis auf Griechenland und Großbritannien liegen für alle EU-Mitgliedsländer entsprechende Zahlen vor.

Differenzierung notwendig

Diese Zahlen sind jedoch nicht sehr aussagekräftig, weil es eine Minderheit von Ländern gibt, in denen entgegen dem Gesamttrend die Arbeitslosigkeit sinkt und so weniger Geld für Arbeitsmarktpolitik ausgegeben wird. Neben Deutschland gehören dazu zum Beispiel Belgien und Österreich.