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78 Prozent sind 22 Prozent zu wenig

Interview der Woche von Kirsten Tackmann,

Kirsten Tackmann, frauenpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE, äußert sich zum bevorstehenden Internationalen Frauentag am 8. März

Kürzlich hat Wolfgang Böhmer, CDU-Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, die Öffentlichkeit mit der irrwitzigen These geschockt, die jüngsten Babymorde in Ostdeutschland seien auch ein Erbe der DDR. Was fällt Ihnen als zweifache Mutter aus dem Osten dazu ein?

Mit dieser dumpfen Gedankenwelt hat er sich als Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt disqualifiziert. Wolfgang Böhmer versucht, die selbstbestimmte Entscheidung der Frauen in der DDR über die Austragung einer Schwangerschaft zu diskreditieren. Er beleidigt damit alle ostdeutschen Frauen, die mit diesem Recht verantwortungsvoll umgegangen sind. Das ist ein allzu durchsichtiger Versuch, von den wirklichen Ursachen abzulenken. Zur Verhinderung von Kindstötungen brauchen wir nicht den Zeigefinger Richtung Vergangenheit, sondern eine kinderfreundliche und geschlechtergerechte Gesellschaft heute.

Als Frauenpolitikerin müssten Sie mit der aktuellen Situation für Frauen in Deutschland doch recht zufrieden sein?

Ganz im Gegenteil. Denn der Rückbau von öffentlicher Infrastruktur und Daseinsvorsorge trifft besonders Frauen und schränkt ihre Möglichkeiten für ein selbstbestimmtes Leben ein. Die derzeitige Arbeitsmarktpolitik verstärkt die strukturelle Diskriminierung von Frauen in der kapitalistischen Gesellschaft. So sind 70 Prozent der Beschäftigten im Niedriglohnsektor weiblich, der Lohnunterschied zwischen den Geschlechtern beträgt in der Bundesrepublik skandalöse 22 Prozent. Solange eine gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe und eigenständige Existenzsicherung von Frauen nicht gewährleistet ist, kann eine linke Frauenpolitikerin nicht zufrieden sein.

Immerhin kann Frau es bis zur Kanzlerin schaffen.

Was beweist das? Die Ausnahme beweist doch nur die Regel: Noch immer sind wenig Frauen in den wirtschaftlichen und politischen Führungsebenen vertreten. An der Spitze großer Unternehmen fehlen Frauen fast vollständig. DIE LINKE fordert zum Beispiel ein Gleichstellungsgesetz für die Privatwirtschaft. Wir brauchen dafür verbindliche Regelungen, denn die freiwillige Vereinbarung zwischen der damaligen Schröder-Fischer-Regierung und der deutschen Wirtschaft aus dem Jahr 2001 ist gescheitert. Außerdem fordern wir Maßnahmen für eine familienfreundliche Arbeitswelt. Norwegen beweist, dass das geht. DIE LINKE will mehr Gleichstellung, auch für alle Frauen im Erwerbsleben, nicht nur für die Elite der Wirtschaft.

Wie erklären Sie einem männlichen Hartz-IV-Empfänger, dass es Frauen in der Bundesrepublik immer noch schlechter geht?

Natürlich würde ich nicht behaupten, es ginge allen Frauen in diesem Land schlechter als jedem Mann. Eines ist aber Fakt: Kaum eine Tatsache begrenzt aktuell Lebenschancen von Menschen so stark wie das Geschlecht. Die Bedarfsgemeinschaft z. B. schafft ökonomische Abhängigkeit in der Partnerschaft - besonders häufig für Frauen. Aber auch auf dem Arbeitsmarkt ist die Benachteiligung von Frauen vielfältig. Zwei Drittel der erwerbstätigen Frauen sind als Haupttätigkeit geringfügig beschäftigt. Teilzeit ist mehr denn je weiblich. Die Folge sind weniger Geld im Monat, weniger Arbeitslosengeld, weniger Rente. Auch Altersarmut ist vor allem weiblich. Darum fordert DIE LINKE eine eigenständige Existenzsicherung für erwerbstätige Frauen und Männer und armutsfeste Renten. Übrigens sind es gerade Männer mit eigenen sozialen Ausgrenzungserfahrungen, die soziale Ängste und Nöte anderer sehr sensibel wahrnehmen. Soziale und Geschlechtergerechtigkeit sind kein Widerspruch, sondern gleichzeitig Ziel und Voraussetzung linker Politik.

Was verspricht sich DIE LINKE davon, den Internationalen Frauentag am 8. März als gesetzlichen Feiertag in der Bundesrepublik festzuschreiben?

Der 8. März ist alljährlich der Tag, an dem die Defizite der Gesellschaft und der Politik im Umgang mit der Hälfte der Menschheit deutlicher benannt werden, als sonst. Die strukturelle Diskriminierung von Frauen in dieser Gesellschaft muss gerade von der LINKEN klar und deutlich benannt werden. Doch das reicht uns Frauen nicht. Wir fordern nicht nur Umdenken, sondern anders handeln - und zwar sofort. Ein gesetzlicher Feiertag ist die verfassungsmäßig garantierte Zeit „der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung“. Und was kann ein geeigneterer Anlass zur seelischen Erhebung sein, als alljährlich wenigstens am 8. März über Schritte zur tatsächlichen Durchsetzung der Gleichstellung von Frauen und Männern nachzudenken?

linksfraktion.de, 3. März 2008