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70 Jahre Grundgesetz - Zeit für eine soziale Grundrechtsoffensive

Im Wortlaut von Niema Movassat,

Von Niema Movassat


Seit Jahren erleben wir, wie Menschen, die wenig Geld haben, an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden. Betroffen sind vor allem Menschen, die keiner Erwerbsarbeit nachgehen können. Mit den Prinzipien "Fördern, Fordern und Strafen" drangsaliert und entwürdigt das System Hartz IV die Betroffenen zusätzlich. Es sind alleinerziehende Mütter, die den Euro dreimal umdrehen müssen oder der Rentner der im hohen Alter noch Pfand sammeln muss, weil die Mini-Rente nicht bis zum Monatsende ausreicht. Diese und viele weitere Beispiele verdeutlichen, was in Deutschland fehlt: Soziale Grundrechte.

Das Grundgesetz enthält bis auf sehr wenige Ausnahmen keine sozialen Grundrechte. Die Aufnahme originärer Menschenrechte in das Grundgesetz wie ein Mindestmaß an Nahrung, Kleidung und Wohnung wurden von der Mehrheit der Mitglieder des Parlamentarischen Rates 1949 abgelehnt. Erst das Bundesverfassungsgericht hat einzelne soziale Grundrechte aus der Verfassung abgeleitet. So stelle es in seiner Hartz-IV Entscheidung 2010 fest, dass aus dem Sozialstaatsprinzip in Verbindung mit der Menschenwürde ein Anspruch auf ein menschenwürdiges Existenzminimum jedes Menschen gegen den Staat existiert. Dieser verfassungsrechtliche Leistungsanspruch erstreckt sich nicht nur auf die physische Existenz, also Nahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft, Heizung, Hygiene und Gesundheit. Vielmehr hat jede Bürgerin und jeder Bürger auch Anspruch auf ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben, denn der Mensch als Person existiert notwendig in sozialen Bezügen. Statt diese Vorgabe ernst zu nehmen, werden Menschen, die auf Hartz IV angewiesen sind, durch das Sanktionssystem bestraft und nicht effektiv in den Arbeitsmarkt eingegliedert. Deshalb fordern wir als LINKE schon lange die Abschaffung des Bestrafungssystems Hartz IV und die Normierung des Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum im Grundgesetz.

Wir brauchen zusätzlich eine soziale Grundrechtsoffensive. Deutschland hat 1973 den UN-Sozialpakt unterzeichnet. In diesem Pakt sind Rechte im Arbeitsleben, das Recht auf soziale Sicherheit, das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard, das Recht auf Gesundheit, Bildung und Wohnen sowie die Teilhabe am kulturellen Leben verankert. Der UN-Sozialpakt wird in Deutschland nicht konsequent umgesetzt, da er von der Bundesregierung kaum beachtet wird. In der Normhierarchie steht der UN-Pakt unter dem Grundgesetz, sodass die dort verankerten Rechte keine Grundrechtsqualität innehaben. Als LINKE fordern wir, die Rechte aus dem UN-Sozialpakt in das Grundgesetz aufzunehmen. Denn es fehlt immer noch bezahlbarer Wohnraum. Viele Beschäftigte sind in unsicheren und schlecht bezahlten Arbeitsverhältnissen tätig. Im Jahr 2018 sah der UN-Sozialrat, der die Einhaltung des UN-Sozialpaktes prüft, bei der Umsetzung der sozialen Menschenrechte in Deutschland gravierende Defizite. Insbesondere war der Sozialrat besorgt über die Lage älterer Menschen, die unter entwürdigenden Bedingungen leben müssen. Zudem stellte der Rat auch fest, dass Deutschland nicht ausreichend die Kinderarmut bekämpft. In Deutschland leben, so der Bericht des UN-Sozialrates, 2,55 Millionen Kinder in Armut. Diese Feststellungen weisen nochmal darauf hin, dass Deutschland in beschämenderweise die Schwächsten in der Gesellschaft zurücklässt. Wir brauchen also die Aufnahme sozialer Grundrechte in das Grundgesetz, um die zu schützen, die besonderen Schutz brauchen.