Zum Hauptinhalt springen

38 Tage zu Fuß nach Deutschland

Periodika,

Ihre Heimatstadt Suruç wurde in Deutschland bekannt wegen der Nachbarschaft zu Kobanê in Syrien. Zur Erinnerung: Kobanê wurde im Jahr 2014 von der Miliz »Islamischer Staat« (IS) überfallen. Wie hat Ihre Stadt, die Bevölkerung, es geschafft, fast 200 000 Schutzsuchende aufzunehmen?

Orhan Şansal: Die Zahl der Flüchtlinge war fünfmal größer als die Bevölkerung von Suruç. Die Mittel, um die grundlegenden Bedürfnisse der Flüchtlinge zu befriedigen, waren begrenzt. Doch durch die Mobilisierung und Unterstützung der umliegenden Bezirke konnten wir innerhalb einer Woche die Unterbringung lösen und den Geflüchteten täglich drei Mahlzeiten anbieten. Nicht nur die Gemeinde Suruç hat geholfen, es war die kollektive Unterstützung der kurdischen Gesellschaft in Nordkurdistan.

Als der Kampf um Kobanê tobte, stand Suruç plötzlich auch im Licht der internationalen Öffentlichkeit.

Ja, denn Suruç lag direkt hinter der Frontlinie. Zu uns kamen Aktivistinnen und Aktivisten aus aller Welt, die sich dem Kampf um Kobanê anschließen wollten. Auch viele Journalisten wollten über den Widerstand gegen den IS berichten. Als Gemeinde haben wir nicht alle empfangen und versorgen können, ihre Bedürfnisse wurden vor allem von der lokalen Bevölkerung erfüllt.

Als Bürgermeister einer kurdischen Stadt standen Sie später sowohl auf der Fahndungsliste der türkischen Regierung als auch auf der Todesliste des IS. Sie sind dann zunächst in die 400 Kilometer entfernte Kreisstadt Cizre geflohen. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?

Nachdem die Friedensgespräche zwischen der PKK (Arbeiterpartei Kurdistans; Anm. d. Red.) und der türkischen Regierung von Letzterer abgebrochen worden waren, haben in Nordkurdistan gewalttätige Auseinandersetzungen begonnen. Cizre wurde von der türkischen Armee wochenlang belagert und schließlich gestürmt. Ich wurde Zeuge von staatlichen Massakern an Zivilistinnen und Zivilisten. Wir mussten mit ansehen, wie auf offener Straße und in Kellern Menschen, darunter auch viele Kinder, getötet wurden.

Sie haben sich dann entschlossen, nach Deutschland zu fliehen. Konnten aber nicht mehr legal ausreisen. Wie sind Sie nach Deutschland gekommen?

Zuerst bin ich nach Bulgarien und von dort weiter zu Fuß nach Rumänien gelaufen. In Rumänien wurde ich verhaftet, war zwei Tage in Gewahrsam. Später bin ich von Rumänien nach Ungarn gelaufen. Nach 38 Tagen Fußmarsch habe ich dann über Österreich Deutschland erreicht.

Sie haben hier einen Asylantrag gestellt, der abgelehnt wurde. Mit welcher Begründung?

Mein Asylantrag in Deutschland wurde mit der Begründung abgelehnt, dass ich in Rumänien einen Antrag gestellt hätte. Doch die deutschen Behörden wissen, dass das nicht stimmt. Ich habe dort keinen Antrag gestellt. Ich bin nach Deutschland gekommen, da hier viele Kurdinnen und Kurden leben und ich die Hoffnung hatte, dass Deutschland meine Auslieferung an die Türkei ablehnen wird.

Einige türkische Militärs haben in Deutschland Asyl beantragt. Medien berichten, sie würden Schutz genießen, weil Präsident Recep Tayyip Erdoğan alle vermeintlichen Gülen-Anhänger politisch verfolgt. Wie sieht es mit Ihnen und anderen Menschen aus, die wegen angeblicher Unterstützung der PKK politisch verfolgt werden?

Offen gesagt gibt es hier in Deutschland aufgrund des PKK-Verbots einen vorurteilsbehafteten Umgang mit uns Kurden. Wie vonseiten der Türkei ja auch. Mit uns wird anders umgegangen als mit anderen politischen Geflüchteten.

Wie beurteilen Sie die Asylpolitik der Bundesregierung in Bezug auf politisch Verfolgte aus der Türkei?

Ich glaube inzwischen, dass wegen wirtschaftlicher Interessen demokratische Rechte hintangestellt werden. Deshalb habe ich keine Hoffnung, von deutschen Gerichten Unterstützung zu bekommen. Die Bundesregierung und die Gerichte gehen bei der Behandlung politisch Verfolgter pragmatisch vor: Die Türkei verlangt von Deutschland die Verfolgung der PKK und die Auslieferung derjenigen, die in der Türkei wegen der Unterstützung der PKK angeklagt sind. Das sind praktisch alle fortschrittlichen Kurdinnen und Kurden. Und die deutschen Behörden hinterfragen diese Sichtweise so lange nicht, bis eine andere Regierungsorder von der Regierung erfolgt. Aber die deutsche Regierung interessiert sich nicht für die Situation der Kurdinnen und Kurden in der Türkei.

 

Das Interview führte Elke Dangeleit

Orhan Şansal (39) war bis Februar 2016 Bürgermeister der türkisch-kurdischen Stadt Suruç mit 60 000 Einwohnerinnen und Einwohnern an der Grenze zu Syrien. Er ist Politiker der Oppositionspartei HDP. Suruç wurde weltweit bekannt, weil die Stadt im September 2014 mehr als 200 000 Flüchtlinge aus der benachbarten Stadt Kobanê in Nordsyrien aufnahm, die von der Terrororganisation »Islamischer Staat« überfallen wurde. Als Şansal im Dezember 2015 erfuhr, dass er wegen angeblicher Unterstützung der PKK verhaftet werden sollte, tauchte er unter und floh im Februar 2016 nach Deutschland. Er stellte einen Asylantrag, der jüngst abgelehnt wurde.

 

 

Ein Land im Ausnahmezustand

Im Juli 2015 erklärte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan aus wahltaktischen Gründen den Friedensprozess mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) für gescheitert und den Kurden damit faktisch den Krieg. Im Südosten des Landes wurden Ausgangssperren verhängt, die Armee ging brutal gegen die Bevölkerung vor. Einem Bericht des UN-Hochkommissars für Menschenrechte zufolge wurden zwischen Juli 2015 und Dezember 2016 rund 2 000 Menschen getötet, darunter 1 200 Zivilisten. Ganze Stadtteile wurden belagert, bombardiert und zerstört, 500 000 Menschen aus ihren Häusern und Wohnungen vertrieben. Im vergangenen Jahr setzte eine massive Verhaftungswelle gegen demokratisch gewählte Bürgermeister der prokurdischen HDP ein. Sie wurden durch Erdoğanhörige AKP-Beamte ersetzt. Auch die Vorsitzenden der HDP, Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ, sowie weitere Abgeordnete des türkischen Parlaments wurden inhaftiert. In der Türkei herrscht der Ausnahmezustand und ein Klima der Angst. Im ganzen Land verlieren Oppositionelle und Andersdenkende ihre Arbeit und werden weggesperrt.