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2017: Ein Gewerbearzt für eine halbe Million Beschäftigte zuständig

Nachricht von Jutta Krellmann,

Auswertung der Antwort der Bundesregierung auf Kleine Anfrage „Das Gutachterwesen im Berufskrankheitenrecht“ (Drs. 19/8622) von Jutta Krellmann u.a. und der Fraktion DIE LINKE im Bundestag


Die Anzahl der Gewerbeärzte hat sich in den letzten 20 Jahren bundesweit mehr als halbiert (-57%). In Bremen gibt es heute keinen Landesgewerbearzt mehr, in Niedersachsen nur noch zwei. Gleichzeitig ist in den letzten 10 Jahren die Zahl der angezeigten Berufskrankheiten wieder angestiegen (+23%).

Bundesweit war 2017 im Durchschnitt ein Gewerbearzt für 587.868 Arbeitnehmer zuständig. 1997 lag das Verhältnis bei 1:215.418. In einzelnen Bundesländern ist das Verhältnis besonders stark gefallen: War in Sachsen-Anhalt 1997 ein Gewerbearzt für 92.782 zuständig, war er es 2017 für 921.600 Beschäftigte (+993%). Schlusslicht ist Nordrhein-Westfalen, hier war 2017 ein Gewerbearzt für über 2,1 Mio. Arbeitnehmer zuständig, während er 1997 für 1,6 Mio. verantwortlich war (+353%). Die Zahl der angezeigten Berufskrankheiten ist von 85.406 im Jahr 1997 auf 61.150 im Jahr 2007 gesunken (-28%) und auf 75.187 im Jahr 2017 angestiegen (+23%). Nachdem die Anerkennungsquote von 26 Prozent im Jahr 1997 auf 22 Prozent im Jahr 2007 sank, ist sie im Jahr 2017 wieder auf 26 Prozent gestiegen. 2017 wurde damit etwa jede vierte Berufskrankheit anerkannt.

Die Bundesregierung hat keine Erkenntnisse über die Anzahl der Gutachten i.V.m. der Anerkennung von Berufskrankheiten und über die tatsächliche Bearbeitungszeit zur Erstellung eines Gutachtens. Sie weiß ferner nicht, wie viele Verfahren sich auf die Gutachten staatlicher Gewerbeärzte bzw. die im Auftrag der Berufsgenossenschaft erstellten Gutachten stützen und wie viele Gutachter konkrete Aufträge angenommen und Gutachten erstellt haben. Unstrittig ist der Bedarf an qualifizierten medizinischen Sachverständigen, um die Bearbeitungszeit zur Erstellung von Gutachten zu verkürzen. Eine Reform im Berufskrankheitenrecht plant die Bundesregierung nicht und hat auch nicht die Absicht, Aufgaben der Landesgewerbeärzte an eine Bundeseinrichtung, wie z.B. die BAuA, zu übertragen.

 

Dazu sagt Jutta Krellmann, MdB, Sprecherin für Mitbestimmung und Arbeit für DIE LINKE im Bundestag:

"Wenn es um Berufskrankheiten geht, bluten die Kontrollbehörden seit Jahren aus. Das grenzt an vorsätzliches Staatsversagen. Diesen Aderlass bei den Gewerbeärzten muss gestoppt werden, hier ist auch die Bundesregierung in der Pflicht. Viele Betroffene fühlen sich zu Recht vom Staat im Stich gelassen. Das ist ein unhaltbarer Zustand. Wer durch seine Arbeit krank wird muss entsprechend entschädigt werden. Das Berufskrankheitenrecht braucht dringend eine Frischzellenkur, um wieder Vertrauen herzustellen."

 

Hintergrund:

Die niedrige Anerkennungsquote von lediglich einem Viertel der angezeigten Berufskrankheiten, bedeutet auch, dass tausende Arbeitnehmer nicht entschädigt werden, obwohl sie schwer erkrankt sind. Kritiker führen diese niedrige Anerkennungsquote auf Defizite im bestehenden Berufskrankheitenrecht zurück (Reportage ZDF-Zoom und Buzz-Feed, 23.1.2019).

Experten kritisieren die vielen Hürden, die Arbeitnehmer überwinden müssen, um eine Berufskrankheit anerkannt zu bekommen. Von besonderer Bedeutung für die Anerkennung einer Berufskrankheit sind die medizinischen Gutachter. Betroffene müssen ein System der zweistufigen Begutachtung durchlaufen, was Jahre dauern kann. Weiterhin kritisiert wird eine mangelnde Unabhängigkeit der Gutachter von der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV). Darüber hinaus verweisen Kritiker auf einen Rückzug staatlicher Institutionen im Zusammenhang mit dem Berufskrankheitenrecht.

Eine wichtige Funktion im Berufskrankheitenrecht üben die Landesgewerbeärzte aus. Die Landesgewerbeärzte sind in der Regel Beamte eines Bundeslandes und stellen die „unabhängige und zugleich fachlich hochqualifizierte Kontrollinstanz in den Verfahren“ zur Anerkennung von Berufskrankheiten dar (Hollo 2018: Das Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten). Vor der abschließenden Entscheidung über die Anerkennung oder Ablehnung einer Berufskrankheit müssen die zuständigen Gewerbeärzte als Vertreter der staatlichen Arbeitsschutzbehörden beteiligt werden, das schreibt die deutsche Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) § 4 vor (BMAS 2019, URL: https://t1p.de/o4sw).


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