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20 Jahre Treuhand: Chancen für Ostdeutschland und vergessene Wahrheiten übers Plattmachen

Nachricht von Roland Claus, Dagmar Enkelmann, Gregor Gysi, Gesine Lötzsch, Kersten Steinke, Kirsten Tackmann,

Eine Herzensangelegenheit sei es für sie gewesen, die Anhörung der Fraktion "DIE LINKE" zu 20 Jahren Treuhandanstalt an Vormittag zu leiten, bekannte Dagmar Enkelmann am Montag, als sie die mehr als 100 Teilnehmerinnen und Teilnehmer im Bundestag begrüßte. Gekommen waren auch Hans Modrow, ehemaliger Ministerpräsident der DDR, Prof. Christa Luft, Wirtschaftsministerin im Modrow-Kabinett, Dr. Heinrich Bonnenberg, ehemaliger Direktor in der Treuhand, Ex-Betriebsrat Gerhard Jüttemann, Carsten Preuß, Initiator der Bundestagspetition gegen die Seenprivatisierung sowie Dr. Werner Rügemer, Sachbuchautor und Kenner von Treuhand-Interna.

Als Abgeordnete der Volkskammer und später des Bundestages hatte und hat Dagmar Enkelmann - heute 1. Parlamentarische Geschäftsführerin der Fraktion DIE LINKE - nicht nur parlamentarisch mit der Treuhand und ihren Nachfolgeeinrichtungen wie der BVVG zu tun. Mit vielen Mitstreitern - wie Gerhard Jüttemann - verbinden sie auch ganz persönliche Erinnerungen. Eine davon schilderte Dagmar Enkelmann: Im September 1993 hatte der Betriebsrat des Kaliwerks Bischofferode - mit Jüttemann an der Spitze - um ein Treffen mit Bundestagsabgeordneten im damals noch nicht umgebauten Reichstag gebeten. Nach Ende des Gesprächs, das sie zusammen mit einer SPD-Kollegin geführt hatte, erinnerte sich Dagmar Enkelmann bei der Anhörung weiter, sei der Betriebsrat einfach im Raum sitzengeblieben und hätten den Reichstag als "besetzt" erklärt. Während die Abgeordnete der SPD schnell das Weite suchte, war Dagmar Enkelmann bei den Kumpeln geblieben, um Kraft des Hausrechts, über das jeder Abgeordnete verfügt, eine Räumung zu verhindern. Über zwei Tage zog sich schließlich die originelle Aktion hin. Mehr Aufsehen als diese "Besetzung" erregte natürlich der Hungerstreik der Bischofferöder Kalikumpel. Er begann, wie Jüttemann bei der Anhörung berichtete, als der Bundestag im Sommer 1993 der ost-westdeutschen Kalifusion zugestimmt hatte und damit die Ost-Kaliindustrie letztlich den Interessen des BASF-Konzerns auslieferte. Noch heute ist Jüttemann wütend, wie die Treuhand ein hochmodernes Kaliwerk mit einer qualifizierten Belegschaft und vollen (Export-)Auftragsbüchern fallen ließ.

Mit der Maxime, Privatisierung und der "freie Markt" sollen es richten, haben Treuhand und die politisch verantwortliche Bundesregierung Ostdeutschland langfristig zu einer benachteiligten Region gemacht. So sind die Altschulden, die noch heute Ost-Wohnungsunternehmen und Ost-Agrarbetriebe belasten, direkte Folgen der Treuhandgesetze.

Christa Luft, Wirtschaftsministerin im Modrow-Kabinett, machte bei der Anhörung deutlich, dass bereits mit der Währungsunion und der Eins-zu-Eins-Umstellung der DDR-Währung für die meisten Unternehmen jede Überlebenschance dahin war. Aus ihrer Sicht war das DDR-Volksvermögen eine Art "Freiwild" geworden. Innerhalb weniger Jahre wurde aus einem geschätzten Wert der DDR-Wirtschaft von 600 Milliarden ein Schuldenberg von 256 Milliarden D-Mark. Christa Luft erinnerte auch daran, dass 85 Prozent des einstigen Volkseigentums am Ende bei westdeutschen, 10 Prozent bei ausländischen und nur fünf Prozent in ostdeutschen Händen landeten.

Diese Wahrheiten über in der Treuhand-Zeit wurzelnde Fehlentwicklungen, das wurde bei der Anhörung deutlich, droht in den üblichen Klischees von "maroder Wirtschaft", der „Pleite-DDR" und der Alternativlosigkeit einer schnellen Privatisierung zu versinken. Gregor Gysi, Vorsitzender der Fraktion DIE LINKE, plädierte denn auch dafür, die Erfahrungen wieder stärker ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Für ihn zeige die Treuhandzeit auch, dass weder staatliches noch privates Eigentum an sich die alleinige Lösung darstellten, es komme immer auch auf die Mitentscheidungsrechte der Belegschaften an. Nicht ohne Grund hätte sich auch, so Gysi weiter, die Genossenschaften als ein zukunftsfähiges Eigentums-Modell erwiesen. Auch Christa Luft setzte sich für einen Mix von Eigentumsformen ein, bei dem staatliches Eigentum einen "hohen Stellenwert" haben müsse. Treuhand-Direktor Bonnenberg mahnte seinerseits - angesichts auch heftiger Kritik während der Anhörung - eine differenzierte Debatte an. Auch wenn es Fälle wie Bischofferode gegeben hat, so habe er selbst nicht und keiner seiner Mitarbeiter jemals das Ziel verfolgt, die DDR "plattzumachen."

Im zweiten Teil der Anhörung, den Kersten Steinke, Vorsitzende des Petitionsausschusses, moderierte, erteilte sie dem Publizist und Sachbuchautor Dr. Werner Rügemer das Wort. Faktenreich belegte er seine These: „Mit der Treuhand begann eine neue Entwicklung: die des subventionierten Kapitalismus.“ Er betonte, dass der Leitungsausschuss der Treuhand nicht gesamtdeutsch besetzt gewesen sei, somit auch nicht die Interessen der Ostdeutschen gewahrt wurden. Die Treuhand wurde aus dem Staatshaushalt ausgegliedert. Sie habe selbständig Kredite aufgenommen, ohne dass der Bundestag darüber jemals beraten hätte. Anschließend wurden diese Kredite - also Schulden- Bestandteil des Bundeshaushalts. Dr. Rügemer zog Parallelen zur Bankenaufsicht der Bundesanstalt für Finanzmarktstabilisierung (FMSA). Die FMSA wurde im Oktober 2008 als Instrument zur Bewältigung der Finanzmarktkrise ins Leben gerufen. Sie soll den Sonderfonds Finanzmarktstabilisierung (SoFFin), der von der Bundesregierung mit 480 Mrd Euro ausgestattet wurde am Parlament vorbei verwalten.

Volksvermögen werde auch weiter verschleudert, wenn Seen und Äcker und Wälder verkauft würden, mahnten Kirsten Tackmann, agrarpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE, und Carsten Preuß, Initiator der Bundestagspetition gegen die Seenprivatisierung an. Seit 2007 sind verstärkt Bodenspekulanten in Ostdeutschland unterwegs, um Land, Seen und Äcker aufzukaufen. Gesine Lötzsch, die stellvertretende Fraktionsvorsitzende, erzählte in ihrem Beitrag u.a. eine Anekdote, die den Teilnehmern auf ungewöhnliche Weise die noch immer bestehenden Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland vor Augen führte: „Ich habe meine Praktikantin gebeten, für mich einen See in den alten Ländern zu kaufen. Sie hat einen ganzen Tag im Internet gesucht, sogar Makler angerufen und stieß immer nur auf Verwunderung. Man könne ihr ein Seegrundstück verkaufen, aber Seen nicht.“ Was im Westen auf völliges Unverständnis stößt, ist im Osten absurde Realität - „dank“ der Gesetze, die es der Bodenverwertungs- und -verwaltungs GmbH (BVVG) erlauben, Seen, Äcker und Wälder zu verkaufen.“ Jeder Demokrat müsse sich doch, so Lötzsch, die Frage stellen, was wird aus unserer Demokratie, wenn der letzte See, der letzte Acker, der letzte Wald und das letzte Krankenhaus privatisiert sind?

DIE LINKE, betonte Roland Claus, Ostkoordinator der Fraktion, habe mit ihrem „Leitbild Ostdeutschland 2020“ ein Konzept entwickelt, das auf 20 Jahre Erfahrung als Transformationsgesellschaft zurückgreift. Es verdiene, bundesweit anerkannt zu werden. Bislang greife die Bundesregierung nicht darauf zurück, so dass diese Erkenntnisse brachliegen. Der Kern dieser Überlegungen ist, ostdeutsche Erfahrungen endlich für einen sozial-ökologischen Umbau in der gesamten Bundesrepublik zu nutzen.

Gesine Lötzsch betonte, dass Ostdeutschland vor dramatischen Veränderungen stehe. Diese seien geprägt von Wirtschafts- und Sozialabbau, Pleiten der Kommunen und strukturellen Defiziten. „Wenn es uns, damit meine ich DIE LINKE, gelingt, vor allem den vielen kommunalen Mandatsträgern der LINKEN, mit Mut und Selbstbewusstsein soziale Innovationen zu entwickeln und in der Praxis zu testen, dann könnten wir zu wahren Schrittmachern werden. Die Faszination sozialer Innovationen würde vor allem junge Menschen bewegen, im Osten zu bleiben oder sogar in den Osten zurückzukommen. Nichts braucht Ostdeutschland, braucht die Bundesrepublik, braucht Europa, braucht die Welt mehr als soziale Innovationen.“