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Zwangsräumungen in der Hauptstadt

erschienen in Clara, Ausgabe 36,

Erstmals liegt eine umfassende Studie zu den Hintergründen von Zwangsräumungen vor: Der Wohnungsmarkt wird härter, die staatliche Hilfe versagt.

Ernüchternder kann ein Befund kaum ausfallen. In Berlin zeigt sich, dass das Hilfesystem des Staates das Recht auf Wohnraum nur dann flächendeckend durchsetzen kann, wenn Vermieter und Eigentümer auch auf Einkommensschwache angewiesen sind. Zu diesem Ergebnis kommt die kürzlich veröffentlichte Studie „Zwangsräumungen und die Krise des Hilfesystems“. Sie wurde von Andrej Holm und zwei Mitarbeiterinnen erarbeitet und Ende April an der Berliner Humboldt-Universität (HU) vorgestellt und online veröffentlicht.

Holm ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der HU und einer der prominentesten Stadtsoziologen Deutschlands. Die von ihm nun ans Licht gebrachten Zustände hätten dieselbe Prominenz verdient – doch Regierungen, Medien und auch die Soziologie befassten sich kaum mit den strukturellen Hintergründen von Zwangsräumungen, sagt Holm.

Zum Skandal der massenhaften Zwangsräumungen in Berlin gehört, dass es keine amtliche Statistik zu Zwangsräumungen gibt. Um dennoch aussagekräftige Daten zu bekommen, trugen Holm und sein Team Daten aus diversen staatlichen Dokumenten und Presseartikeln zusammen, führten Interviews mit Personal von zahlreichen beteiligten Institutionen sowie mit Betroffenen.

Die wichtigsten Ergebnisse:
1. In den Jahren 2009 bis 2013 wurden in Berlin pro Jahr 5.000 bis 7.000 Termine für Wohnungsräumungen gerichtlich festgesetzt, wobei von zwei der zwölf Bezirke keine Daten vorliegen.
2. Es lässt sich zeigen, dass aufgrund der immens gewachsenen Wohnungsnachfrage die Räumungsneigung der Eigentümer zugenommen hat. Es ist für sie viel lukrativer als früher, Menschen aus dem Haus zu werfen.
3. Die Wohnungsunternehmen des Landes räumen überdurchschnittlich viel, die Jobcenter sind durch Fehler (Mieten werden zu spät oder auf falsche Konten überwiesen) und lange Bearbeitungszeiten für viele Zwangsräumungen verantwortlich. Die Macher der Studie nennen das eine „staatliche Koproduktion“ des Elends.
4. Der Staat ist zwar verpflichtet, wohnungslos gewordene Personen unterzubringen, die Berliner Bezirke halten das aber regelmäßig nicht ein. Sie sind personell wie finanziell hoffnungslos überfordert und stehen sogar in einer Konkurrenzsituation zu den Hilfsbedürftigen: Je mehr Geld sie für diese ausgeben, desto weniger haben sie selbst zur Verfügung.
5. Das Hilfesystem verstärkt Diskriminierung und Isolation. Menschen werden alleingelassen oder vom Verwaltungspersonal nach persönlichen Kriterien bevorzugt. Der Auslesemechanismus des Marktes wird so verstärkt, die eigentliche Logik von Auffangsystemen wird ins Gegenteil verkehrt.
6. Fürsorgeunternehmen finden selbst kaum noch Wohnungen, die sie an Wohnungslose vermieten könnten.
7. Die Profile der von Räumung oder erzwungenem Umzug Betroffenen sind sehr vielfältig geworden. Es trifft nicht mehr nur die Ärmsten.

Besserung scheint nicht in Sicht. Eher das Gegenteil, denn die Hilfsbedürftigen werden vom Wohnungsmarkt nicht gebraucht und vom Staat faktisch als bloße Kostenfaktoren betrachtet. Andrej Holm kritisiert, dass der Missstand systembedingt ist: „Die Überforderung des Berliner Hilfesystems ist kein Einzelfall. Das Problem dürfte es überall geben.“