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Zurück in die Zukunft

erschienen in Clara, Ausgabe 25,

Noch in den 1990er Jahren galt vielen Kommunalpolitikerinnen
und -politikern die Formel »Mehr privat statt Staat« als Königsweg. Doch der Königsweg mutierte zu einem Irrweg. Nun hat bundesweit ein Umdenken eingesetzt, zahlreiche Kommunen holen sich ihren einstigen Besitz zurück. clara zeigt erfolgreiche Projekte und vielversprechende Vorhaben.

Noch in den 1990er Jahren galt vielen Kommunalpolitikerinnen
und -politikern die Formel »Mehr privat statt Staat« als Königsweg. Das große Versprechen lautete: Nicht nur die Qualität der Versorgung würde sich verbessern, sondern auch die finanzielle Situation der Kommunen. Vom Wasser bis zum Krankenhaus verscherbelten vielerorts die Gemeinden ihren Besitz.

Doch der Königsweg mutierte zu einem Irrweg, den Bürgerinnen und Bürger bis heute teuer bezahlen: mit steigenden Preisen und einer schlechteren Versorgungs-qualität. Nun hat bundesweit ein Umdenken eingesetzt, zahlreiche Kommunen holen sich ihren einstigen Besitz zurück.

Wolfhagen, Hessen – Stromnetz erobert

Warum die Gewinne aus der Stromversorgung in der Heimat eigentlich in die Taschen reicher Aktionäre fließen lassen? Das dachten sich wohl die Wolfhager Stadtverordneten schon im Jahr 2002, als sie eine wegweisende Entscheidung trafen. Der Energieriese E.ON belieferte elf Stadtteile der Gemeinde, die eigenen Stadtwerke hingegen nur die Kernstadt und zwei weitere Stadtteile. Ihr Beschluss: Schluss damit, die eigenen Stadtwerke sollen ran. Es begann ein jahrelanges Tauziehen mit dem Konzern. Der forderte gigantische Summen für das Netz, wollte nicht alle Leitungen abtreten, verwickelte die Gemeinde in einen langen Rechtsstreit. Trotz alledem: Die Gemeinde blieb hartnäckig und kaufte im Februar 2006 das Netz unter Vorbehalt. Ein voller Erfolg: Die Netzentgelte sanken, Gewinne bleiben in der Gemeinde. Und weil die Stadtwerke jetzt effizienter arbeiten, kann in die Zukunft investiert werden. Die Unabhängigkeit von den großen Energieversorgern und explodierenden Preisen für fossile Brennstoffe ist das neue Ziel.

Uckermark, Brandenburg – dem Renditetreiben ein Ende gesetzt

Irgendwann stank den Menschen im Kreis Uckermark das Geschäftsinteresse ihres Abfallunternehmens bis zum Himmel. Das wollte sich mit dem Müllgeschäft in einer der ärmsten Regionen Brandenburgs bis zu zweistellige Renditen holen. Kurzerhand kündigte der Landkreis dem Unternehmen und gründete seine eigene Entsorgungsfirma: die Uckermärkische Dienstleistungsgesellschaft. Die übernahm die Entsorgung im Jahr 2006 und bescherte den Menschen eine Gebührensenkung und einen besseren Service. Zudem entstanden neue Arbeits- und Ausbildungsplätze im landkreiseigenen Müllunternehmen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bekommen Tariflohn. Der Landkreis spart trotzdem Millionen Euro ein.

Solingen, Nordrhein-Westfalen – Bürger holen sich die Stadtwerke zurück

Ein großer privater Partner sollte in Solingen im Jahr 2001 die Stadtwerke nach vorn bringen — sogar bis an die Börse. Doch der Verkauf von 49,9 Prozent der Anteile der Stadtwerke an die Mannheimer MVV Energie AG wurde eine Enttäuschung. Das private Mannheimer Unternehmen machte mit den Solinger Bürgerinnen und Bürgern ein einträgliches Geschäft. Nach Berechnungen der Bürgerinitiative »Solingen gehört uns« zog es aus der Beteiligung mit Solingen einen Gewinn von mehr als 50 Millionen Euro ab. Zudem sorgten Renditeforderungen immer wieder dafür, dass Arbeitsplätze und strategisch wichtige Kernkompetenzen der Stadtwerke zur Disposition standen und Investitionen in zukunftsweisende regenerative Energien ausblieben. Ein breites Bürgerbündnis kämpfte jahrelang um den Rückkauf der Anteile, setzte die lokale Politik unter Druck und siegte kürzlich: Die Stadt entschied sich zum Rückkauf und Ende September sollen die Stadtwerke wieder zu 100 Prozent in Bürgerhand sein.

Bergkamen, Nordrhein-Westfalen – die Rekommunalisierungsspezialisten

Als Spezialisten für Rekommunalisierung gelten die Bürgerinnen und Bürger der nordrhein-westfälischen Stadt Bergkamen. Noch Anfang der 1990er Jahre versorgten private Unternehmen die zirka 51 000 Einwohner mit Strom, Erdgas, Fernwärme und Wasser. Auch die Straßenreinigung und die Abfallentsorgung waren in privaten Händen. Im Jahr 1994 gründete die Stadt jedoch mit zwei Nachbargemeinden ein Gemeinschaftsstadtwerk, um die Daseinsvorsorge wieder zu einer Angelegenheit der Bürgerinnen und Bürger zu machen. Ab dem Jahr 1996 holten sie sich den Strom zurück, 1999 das Gas, später die Fernwärme und Straßenreinigung, 2006 die Müllabfuhr. Die Gebühren sanken um bis zu 25 Prozent. Im Jahr 2010 war sogar die Wasserversorgung wieder in den Händen der Gemeinde. Das Fazit des Bürgermeisters lautet: »Rekommunalisierung von Aufgaben der Daseinsvorsorge ist kein Dogma, aber es ist vielfach die beste Option!«

Gießen und Marburg, Hessen – Kampf ums Krankenhaus

Das hatte es bis dato noch nicht gegeben in der Geschichte der Bundesrepublik: die Privatisierung eines Universitätsklinikums. Dementsprechend heftig war die Kritik im Jahr 2006, als die hessische CDU-Landesregierung die Uni-Klinik Gießen-Marburg an die Röhn AG verscherbelte. Bürgerinnen, Bürger, Ärztinnen und Ärzte protestierten, ein Volksbegehren wurde gestartet — leider erfolglos. Doch die unter Renditezwang stehende Klinik kam fast wöchentlich in die Schlagzeilen: Ärzte und Mitarbeiter kritisierten Arbeitsbedingungen, Patienten beklagten eine schlechte Versorgung. Der Anfang des Jahres vom Konzern in Aussicht gestellte Abbau von Hunderten von Stellen ließ die Stimmung in der Region vollends kippen. Nun fordert nicht mehr nur eine Bürgerinitiative die Rückkehr zur Gemeinnützigkeit des Klinikums, sondern auch Lokalpolitik und Wissenschaft. Ende August überreichten sie dem hessischen Landtag eine Petition, die den Rückkauf durch das Land verlangt.