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Zehn Jahre Armut per Gesetz

Von Katja Kipping, Sabine Zimmermann, erschienen in Clara, Ausgabe 25,

Mitte August 2002 präsentierte der Ex-VW-Manager Peter Hartz einen Katalog
an Gesetzesänderungen: Hartz I bis IV. Die damalige Regierung aus SPD und Grünen übernahm seine Vorschläge – mit weitreichenden Konsequenzen bis heute.

Zum Jahrestag der Hartz-Reformen Mitte August mühten sich Medien auf allen Kanälen um eine Bilanz der rot-grünen Arbeitsmarktreformen. Über die Zwänge des Lebens mit Regelsatz, Sanktionen, Maßnahmen und Ein-Euro-Jobs fiel wie so oft kaum ein Wort. Zum Beispiel im ARD-»Presseclub«. Während Wissenschaftler und Journalisten über abstrakte Zahlen und Prognosen stritten, spielte das Schicksal der betroffenen Menschen keine Rolle.

Derweil brach im Internet-Gästebuch des Senders ein Sturm der Entrüstung los, der mehr als hundert Seiten füllte. Eine junge Frau aus Bonn beschreibt dort ihre Erfahrung mit Hartz IV: »Man wird schief angeschaut, muss bei Behörden betteln gehen, alles offenlegen, jeden Zuschuss einzeln beantragen, wenn man Pech hat, auch noch umziehen.« Ein 67-Jähriger bilanziert: »Wer heute, trotz guter Ausbildung und Abschlüsse, in Hartz IV gerät, der wird in unwürdige Maßnahmen gesteckt oder findet nur als Leiharbeiter, geringfügig Beschäftigter oder mit Werkvertrag wieder eine Arbeit.« Hartz IV sei gleichbedeutend mit Entwürdigung, Entmutigung, Entrechtung, schreibt ein junger Mann. Die vielen Suppenküchen und Tafeln seien eine Schande für jedes wohlhabende Land. Und eine 64-jährige Frau, die jahrzehntelang als Fachverkäuferin gearbeitet hat und durch Krankheit arbeitslos geworden ist, beklagt sich: »Demnächst gehe ich in Rente, ich werde immer von der Hand in den Mund leben müssen.«

Doch Hartz IV hat nicht nur Millionen Menschen in Armut und Verzweiflung gestürzt. Weil das Gesetz auch handwerklich schlecht gemacht ist, nimmt die Anzahl der Hartz-Klagen an deutschen Gerichten ständig zu. Michael Kanert, Richter am Berliner Sozialgericht, gab im August in einem Zeitungsinterview zu Protokoll: »Hartz IV ist ein absolutes Sorgenkind.« Rund 40 000 offene Fälle lägen am Berliner Sozialgericht vor, überwiegend gegen Hartz IV. Die Erfolgsquote für Hartz-IV-Beziehende ist hoch, sie liegt in Berlin laut Kanert bei rund 55 Prozent.

Hartz IV drückt Löhne

Die Antwort der Bundesregierung auf diese Flut von Klagen ist beschämend: Anstatt ein schlechtes Gesetz zu ändern, wollte sie die Prozesskostenhilfe beschränken. In anderen Worten: Nach Meinung von CDU/CSU und FDP gibt es nur so viele Klagen, weil es erwerbslosen Menschen durch die Prozesskostenhilfe so einfach gemacht wird, gegen offenkundiges Unrecht zu klagen.

Die Anzahl der Klagen ist auch deshalb so hoch, weil es zur Praxis der Jobcenter gehört, erst dann nachzugeben, wenn es gar nicht mehr anders geht – auch wenn klar ist, dass das Jobcenter vor Gericht verliert. In Leipzig endete ein solcher Fall in diesem Jahr kurios: Ein Hartz-IV-Bezieher ließ kurzerhand das Jobcenter pfänden. Das hatte sich trotz rechtskräftigen Urteils geweigert, die zu Unrecht einbehaltenen Leistungen auszuzahlen.

Nicht zuletzt hat Hartz IV dazu geführt, dass der Niedriglohnsektor in Deutschland rapide gewachsen ist, so wie es von Beginn an politisch gewollt war. Sabine Zimmermann, arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE, sagt: »Die Spaltung des Arbeitsmarktes durch Leiharbeit, Minijobs und befristete Jobs hat alle Beschäftigten unter Druck gesetzt.« Für viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bedeute das schlecht bezahlte Arbeit ohne Perspektive. Und schlechte Löhne führten zu Mini-Renten.

Auch zehn Jahre nach der ersten Präsentation der Hartz-Gesetze gilt: Hartz IV ist kein Programm für Arbeit, sondern für Armut. Katja Kipping, sozialpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE, fordert daher: »Es ist Zeit für einen neuen Gesellschaftsvertrag für soziale Sicherheit, Teilhabe und gerechte Löhne.« Bis dahin bleibt Hartz IV sozialer Sprengstoff.