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»Wir brauchen einen Mindestlohn«

erschienen in Klar, Ausgabe 7,

Der Schriftsteller und Undercover-Journalist Günter Wallraff über Mindestlohn, seine Erfahrungen in Call-Centern, Homosexualität im Vatikan und deutsche Gewerkschaften

Landolf Scherzer: Du bist jüngst 65 Jahre alt geworden. Was sollte sich in der Welt bis zu deinem 70. Geburtstag verändert haben?

Günter Wallraff: Erst einmal etwas Überfälliges: einen Mindestlohn, den man aber nicht bei 7 oder 8 Euro ansetzen darf, sondern bei 10 Euro. Ich wünsche mir, dass der Riss, der unsere Gesellschaft in Arm und Reich teilt, gekittet wird. Dass der Gier und der Beschleunigung in unserer Gesellschaft Einhalt geboten wird und die Menschen wieder einen normalen Rhythmus finden können. Ihnen wird so viel abverlangt, dass viele überfordert und ausgepowert sind.

Du hast einmal gesagt, ein Schmetterling könne mit einem einzigen Flügelschlag am anderen Ende der Welt einen Orkan hervorrufen. Wie setzt du deinen Schmetterlingsflügel ein, um die Welt zu verändern?

Als teilnehmender Beobachter, quasi im Selbstversuch, habe ich mich auch in Call Centern umgesehen und über kriminelle Geschäftsmethoden und unwürdige Arbeitsbedingungen in Rundfunk- und TV-Beiträgen bis hin zu Talk-Shows berichtet. Das hat Wellen geschlagen: Fast 90 Prozent der Menschen sind der Meinung, dass diesem Telefonbetrug Einhalt geboten werden muss. Jetzt bewegt sich endlich auch die Politik. Man kann auch als Einzelner, wenn man beharrlich ist, einiges erreichen.

Deinen Vorschlag, in der Moschee in Köln-Ehrenfeld aus Salman Rushdies Satanischen Versen vorzulesen, der wegen dieses Werkes noch immer mit dem Tode bedroht wird, hat die Islamische Union der Anstalt für Religion abgelehnt. Was hatte dich zu diesem Angebot bewegt?

Ich bin ein mich selbst beauftragender Dialogbeauftragter. Salman Rushdie hat ein paar Mal bei mir versteckt gewohnt. Am Anfang habe ich tatsächlich viel Zustimmung erhalten. Aber auch diese Moscheegemeinde, eine der liberalsten in Deutschland, ist ferngesteuert, abhängig vom Amt für religiöse Angelegenheiten in der Türkei. Jetzt reise ich dorthin mit dem Ziel, die letztlich Verantwortlichen zu überzeugen.

Es bedarf nicht immer des Erfolges, auch eine Ablehnung kann gesellschaftliche Probleme deutlich machen ...

Immerhin hat sich jetzt die größte Moscheen-Gemeinde in Deutschland öffentlich gegen die Fatwa ausgesprochen. Mein Vorschlag hat Diskussionen ausgelöst, Enttabuisierung eingeleitet. Und auch zu überraschender Kritik geführt: Eine Kolumnistin aus Bayern hat mir zum Beispiel vorgeworfen, mein Vorschlag sei so frevelhaft, als forderte ich, im Vatikan einen ökumenischen Schwulengottesdienst abzuhalten.

Warum nicht!

Das wäre dort überfällig! Schwule Priester müssen sich in der Katholischen Kirche verstecken. Ich würde zu diesem Gottesdienst übrigens auch alle Geliebten der Priester und ihre verborgenen Kinder mit einladen. Nur gibt es einen elementaren Unterschied: Wer so etwas heutzutage fordert, wird nicht mehr mit dem Tode bedroht.

Vom Vatikan zurück nach Deutschland, einem Land, dessen Reichtum sehr ungleich verteilt ist. Wie müssen wir die Verteilungsprinzipien ändern?

Wir müssen im Bildungssystem anfangen. Die Ausgrenzung fängt bereits im Kleinkindalter an. In Sachen Bildung ist Deutschland ein Entwicklungsland. Und die Statistik sagt, dass Familien, die über weniger als 1500 Euro monatlich verfügen, eine neun Jahre niedrigere Lebenserwartung haben als Familien, die mit mehr als 4500 Euro gesegnet sind: Wenn du arm bist, musst du früher sterben.

Verteilungsgerechtigkeit ist Gerechtigkeit an Bildung und Gesundheit. Nun hat sich die Linke zusammen gefunden, um sich zumindest in Opposition zu versuchen ...

Es geht nicht um Parteizugehörigkeit, es geht vor allem um die Gewerkschaften. Sie sind nicht mehr gestaltende Kraft, die Mitglieder laufen weg. Meine Meinung ist: Man muss in die Gewerkschaften hineingehen und dort mitwirken.

Das Interview führte der Schriftsteller Landolf -Scherzer, zu dessen größten Erfolgen das Reportagebuch Der Erste zählt. Für sein jüngstes Buch Der Grenzgänger schritt er 400 Kilometer der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze ab, unter anderem gemeinsam mit Günter Wallraff.