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„Wer auf Abschottung setzt, bringt Menschen in Gefahr“

Von Sevim Dagdelen, Ulla Jelpke, erschienen in Klar, Ausgabe 37,

Sevim Dagdelen und Ulla Jelpke analysieren die Ursachen von Flucht und schlagen Lösungen vor.

Warum herrscht vielerorts in Deutschland vor und in Erstaufnahmeeinrichtungen Chaos?   Sevim Dagdelen: Die Bundesregierung war zu lange untätig. Dabei war seit Langem abzusehen, dass deutlich mehr Flüchtlinge kommen werden. Man denke nur an den Krieg in Syrien, den Vormarsch des sogenannten Islamischen Staats, das Chaos im Irak. Mit fatalen Folgen: In vielen Gemeinden gelingt es nur dank dem ehrenamtlichen Engagement zahlreicher Bürger, die Flüchtlinge zu versorgen.   Ulla Jelpke: Der Staat steht in der Verantwortung. Diese Aufgaben darf er nicht delegieren. Deutschland ist so ein reiches Land, es wäre kein Problem, die Flüchtlingshilfe besser zu organisieren. Auf der anderen Seite finde ich es sehr ermutigend, dass sich so viele Menschen engagieren. Das ist großartig.    Europa hat jahrelang auf Abschottung gesetzt und viele Milliarden Euro für Grenzzäune ausgegeben. Ist diese Politik gescheitert?   Dagdelen: Keine Mauer der Welt hält Menschen, die vor Krieg oder bitterer Armut fliehen, davon ab, ihren Traum von einem angstfreien Leben zu verfolgen. Wer heute noch auf Abschottung setzt, bringt Menschen in Gefahr und wird für noch mehr Tote verantwortlich sein – im Mittelmeer und auf der Balkanroute. Deshalb fordern wir, die Grenzen zu öffnen.    Jelpke: Gescheitert ist vor allem der illusionäre Versuch, sich vor den Folgen der europäischen Außen- und Wirtschaftspolitik abzuschotten.   Wie ist das zu verstehen?    Dagdelen: Für Kriege und Bürgerkriege, für Armut und Perspektivlosigkeit in den Herkunftsländern der Flüchtlinge tragen die Europäische Union und auch die Bundesrepublik eine gehörige Mitverantwortung. Millionen Menschen werden in die Flucht getrieben, wenn Staaten wie Libyen zerbombt werden oder wenn europäische Fangflotten afrikanische Küstengewässer leer fischen.   Was unternimmt die Bundesregierung, um solche Fluchtursachen zu bekämpfen?   Jelpke: Nichts, im Gegenteil: Die Bundesregierung schafft jeden Tag neue Fluchtursachen. Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) hatte angekündigt, den Export deutscher Waffen zu begrenzen. Fakt ist jedoch: Im ersten Halbjahr 2015 hat er bereits mehr Waffenexporte genehmigt als im ganzen vergangenen Jahr. Die Bundesregierung gibt nicht einmal 0,7 Prozent des Haushalts für Entwicklungshilfe aus. Sie bleibt weit hinter der Richtlinie für reiche Industriestaaten zurück.    Dagdelen: Wenn die Bundesregierung wirksam die Ursachen von Flucht bekämpfen wollte, müsste sie ihre Politik vom Kopf auf die Füße stellen: fairer Handel statt Freihandelspakte, friedliche Außenpolitik statt Interventionskriege wie in Afghanistan oder Somalia …   Jelpke: Das aber würde der Logik des Kapitalismus und Imperialismus zuwiderlaufen. Wir haben es mit einem systemischen Problem zu tun.    Sevim Dagdelen ist migrationspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE, Ulla Jelpke ist innenpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE.