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Wenn wir dürften, könnten wir mehr

erschienen in Clara, Ausgabe 24,

Menschen mit Behinderung bekommen immer noch kaum Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Dabei ist Arbeit ein Grundpfeiler für ein würdevolles und selbstbestimmtes Leben.

Mitte Mai 2012, der Circus Sonnenstich hat eingeladen zur Jubiläumsgala: in den Wintergarten, ins prominente Varieté ganz in der Nähe des Potsdamer Platzes in Berlin. Mittendrin, da gehören wir hin, sagen die Zirkusprotagonisten. Circus Sonnenstich, das sind 16 junge Erwachsene im Alter zwischen 19 und 27 Jahren mit sogenannten geistigen Behinderungen. Seit 15 Jahren gibt es diesen Zirkus der besonderen Art. Nach dem jüngsten Gastspiel in Finnland meint Anna-Maria Fischer, eine der Sonnenstich-Künstlerinnen: »Das Schönste im Zirkus ist die Akrobatik und das Trapez. Ich möchte zeigen, dass wir besser Akrobatik können. Das Publikum weiß das gar nicht. Die sind überrascht, dass wir das so gut können.«

Die Möglichkeit einer erfüllenden Arbeit mit gesellschaftlicher Anerkennung bleibt jedoch vielen anderen Menschen mit Behinderung verwehrt. Fast zehn Millionen Menschen mit Behinderung leben in Deutschland. 3,5 Millionen sind voll erwerbsfähig. Doch 1,5 Millionen von ihnen sind ohne jede Arbeit. Die Arbeitsämter wiederum haben aus dieser letzten Gruppe nur 180 000 erfasst. Das hat mehrere Gründe: Erwerbslose, die sich in gesundheitlichen Reha-Maßnahmen befinden, fallen aus der Statistik. Andere wiederum melden sich nicht arbeitssuchend, weil für sie ein Schritt auf den regulären Arbeitsmarkt ohnehin kaum Erfolg versprechend ist. Das kommt nicht von ungefähr. Im Vergleich zur übrigen Bevölkerung ist die Arbeitslosigkeit bei Behinderten doppelt so hoch. Unternehmen fürchten vor allem den bürokratischen Aufwand, der mit einer Einstellung eines behinderten Menschen verbunden ist. Selbst große Unternehmen zahlen lieber Ausgleichsabgaben an den Staat, als über Einstellungen den gesetzlich geforderten Mindestanteil von Menschen mit Behinderung an der Gesamtbelegschaft von fünf Prozent zu erreichen. 37 500 Betriebe in Deutschland beschäftigen überhaupt keinen behinderten Arbeitnehmer. Mehr noch: Große Unternehmen entledigen sich ihrer gesetzlichen Verpflichtungen, indem sie einfache Arbeiten an billige Arbeitskräfte in die 700 deutschen Behindertenwerkstätten auslagern.

Der Durchschnittsverdienst der dort Tätigen liegt bei 170 Euro. VW etwa lässt Bauteile in diesen Werkstätten unschlagbar billig produzieren, die Verpflichtung des Großkonzerns, Menschen mit Behinderung in die eigenen Arbeitsabläufe zu integrieren, reduziert sich für den Autobauer damit per Gesetz. Ein gutes Geschäft für die Unternehmen: billige Produktion und keinerlei Verpflichtung.

Wirkliche Inklusion, selbstbestimmt und würdevoll, sieht anders aus, wie das Beispiel Jan Krechs zeigt. Auch Krechs Leben ist eins mit Handicaps. Seit Geburt hat er Tetraspastik – eine Lähmung der Arme und Beine. Krech sitzt im Rollstuhl. Der aber hindert ihn an gar nichts. Als Fan von Energie Cottbus reist er zu jedem Spiel, egal wo es stattfindet. Seine jüngste Reise hat ihn nach Moskau zur Integrationsmesse »Integrazia« geführt. Dort hat er einen Vortrag zur Inklusion gehalten. Wer weiß besser als er, wie schwer es behinderten Menschen gemacht wird, ihren Platz im Alltag zu finden. Er war in einer Sonderschule, machte seine Berufsausbildung im Berufsbildungswerk, der Berufsschule für Menschen mit Behinderung. Dabei wollte er immer nur eins: ein Leben außerhalb von Sondereinrichtungen. Dieses Leben hat er sich mittlerweile erkämpft: die eigene Wohnung in Potsdam, den Job in Berlin, sozialversicherungspflichtig, auf dem ersten Arbeitsmarkt. Jan Krech ist seit Jahresbeginn Mitarbeiter im Allgemeinen Behindertenverband in Deutschland (ABiD) e. V.

Ilja Seifert, behindertenpolitischer Sprecher der Fraktion DIE LINKE, hat solche positiven Beispiele vor Augen, wenn er sich für die Integration von behinderten Menschen auf dem ersten Arbeitsmarkt ausspricht. Dazu gehört für Seifert auch die Umgestaltung von Werkstätten in Integrationsbetriebe, also in Betriebe, in denen mehr behinderte Menschen neben Nicht-Behinderten arbeiten können, sozialversicherungspflichtig, nach Tariflohn, mit gleichen Rechten und damit mehr Möglichkeiten der gesellschaftlichen Teilhabe. Denn darum geht es dem Abgeordneten genauso wie Jan Krech und den Artisten des Circus Sonnenstich.

Gisela Zimmer