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Wenn Oma früh zur Arbeit geht…

erschienen in Clara, Ausgabe 21,

Hunderttausende Senioren kommen schon jetzt kaum über die Runden, müssen arbeiten gehen. Wenn nichts passiert, könnten es bald Millionen sein.

»Man gibt es nicht so gern zu, dass die eigene Rente zum Leben nicht reicht«, sagt Ute Eichhorn. Man schäme sich. Ute Eichhorn ist 70 Jahre alt und hat nie aufgehört zu arbeiten. Auch nicht mit Beginn ihrer Rente. Sie ist gelernte Apothekenhelferin, hat studiert, wurde Pharmazieingenieurin und war ein Leben lang in der Apotheke. Das Ergebnis: 737 Euro monatliche Rente. Zu wenig für Wohnkosten, Strom, Telefon, Versicherung, Arzt und Medizin, Lebensmittel, für die vielen Tausend kleinen Dinge im Alltag. Deswegen geht sie immer noch zum Geldverdienen in die Apotheke. Zweimal die Woche.

Noch härter traf es Karin Schäfer aus Blankenfelde bei Berlin: 68 Jahre, Verkäuferin und Kassiererin. Auf ihrem Rentenbescheid standen 580 Euro. Das war vor sechs Jahren. Inzwischen sind es 599 Euro geworden. »Das reicht hinten und vorne nicht«, sagt die stille, freundliche Frau. So wurde sie das, was man eine »Perle« nennt. Karin Schäfer geht putzen, viermal die Woche, in vier verschiedenen Haushalten.

Haushaltshilfe, Regale in Supermärkten auffüllen, sich als Pförtner verdingen, Zeitung austragen – mit solchen und ähnlichen Jobs bessern deutschlandweit insgesamt 769 000 Frauen und Männer im Alter ab 65 Jahren ihr schmales Budget auf. Es stimmt, nicht alle in dieser Generation gehen aus der blanken Not heraus arbeiten. Es gibt auch Seniorinnen und Senioren, die mögen noch nicht allein zu Hause bleiben, fühlen sich fit genug für einige Stunden Dazuverdienst. Die Mehrzahl ist es nicht.

Im Gegenteil. Die Anzahl derjenigen, die im Alter arm sein werden, wächst. Die Ursachen dafür sind Lücken im Erwerbsleben, lange Zeiten von Arbeitslosigkeit, Leiharbeit, befristete Verträge, schlechte Bezahlung, dazu das gekürzte Leistungsniveau der Rente. Wer früher in Rente geht, muss hohe Abschläge in Kauf nehmen. Hinzu kommt – bereits ab 2012 – die vom Gesetzgeber beschlossene Rente erst ab 67. Eine Illusion. Denn schon jetzt sind kaum Ältere in Vollzeit und in sozialversicherungspflichtigen Jobs beschäftigt. Im Jahr 2009 waren es bei den 64-jährigen Frauen gerade mal 4,3 Prozent, bei den gleichaltrigen Männern knapp über 11 Prozent. Eine weitere aktuelle Zahl der Bundesagentur für Arbeit belegt, dass gut jeder fünfte Vollzeitarbeitnehmer Geringverdiener ist. Das wiederum bedeutet, es wird weit weniger verdient als 10 Euro die Stunde. Aber genau diese 10 Euro wären rechnerisch nötig, um überhaupt nach langjähriger, versicherungspflichtiger Beschäftigung mit der Rente über dem Niveau der Grundsicherung zu liegen. Die Grundsicherung im Alter, das ist nichts anderes als eine Art Pension auf Hartz-IV-Niveau. Diese Fakten kamen durch Anfragen der Linksfraktion an die Öffentlichkeit.

Die 66-jährige Hannelore Gießmann aus Königs Wusterhausen meint: »Da bin ich mit meinen 900 Euro netto ja noch gut dran.« Allerdings geht gut die Hälfte davon für monatliche Fixkosten drauf. Dass die Rente am Ende ihres Arbeitslebens so mäßig ausfiel, überraschte und enttäuschte sie. Abitur, Ausbildung zur Laborantin für Geologie und Mineralogie, Ingenieurökonomiestudium und erwerbstätig ohne Unterbrechung. Bis zum 63. Lebensjahr. Dann ging sie in Rente, um die krebskranke Mutter zu pflegen. »Ich lebe sparsam«, erzählt die brünette Frau, »aber von Lebensstandard halten kann nicht die Rede sein.« Hannelore Gießmann erarbeitet sich solche Dinge wie mal ins Theater gehen, eine kurze Urlaubsreise oder den Friseur mit regelmäßigen Gelegenheitsjobs. Einer davon: Inventurarbeiten in großen Ladenketten.

Ute Eichhorn und Karin Schäfer könnten übrigens die Grundsicherung beantragen. Beide Frauen leben allein und zählen zu den Menschen, die sogar offiziell als arm gelten. In diese Kategorie fallen Frauen und Männer über 65, denen nur 750 bis unter 1.000 Euro monatlich zur Verfügung stehen. Laut »Sozialpolitik aktuell« leben in den neuen Bundesländern besonders viele von Altersarmut Betroffene. Ursache dafür ist die hohe Arbeitslosigkeit, viele sind nach der Wende und der damit verbundenen Abwicklung ihrer Betriebe und Einrichtungen nie wieder in Lohn und Brot gekommen und konnten so auch nichts mehr in die Rentenversicherung einzahlen.

Was ostdeutsche Rentner jetzt durch die wirtschaftliche Nachwendesituation spüren, werden bald viele Bundesbürger in wenigen Jahren erfahren. Die lückenlose Erwerbsbiografie, es gibt sie einfach nicht mehr. Zu viele Frauen und Männer müssen seit der Agenda 2010 mit Minijobs, niedrigen Löhnen oder trotz Arbeit als Sozialhilfe-Aufstocker ihren Alltag meistern. Da bleibt für private Vorsorge nichts übrig. Die Riester-Rente ist also nur gut für Gutverdienende. Mit schmalem Einkommen müssen zunehmend auch Selbstständige, Freiberufler, Künstler und Geisteswissenschaftler auskommen. Sie hangeln sich von Projekt zu Projekt.

Karin Schäfer arbeitete insgesamt 35 Jahre, erzog drei Kinder, und sie lehnt die Grundsicherung für sich ab. Das sei ein Almosen, sagt sie. Ute Eichhorn denkt genauso. Sie wird mit ihrer Rente ohnehin doppelt bestraft. Als Frau noch in der DDR geschieden, erhält sie keinen Versorgungsausgleich. Das bundesdeutsche Rentenrecht versagt den in der DDR geschiedenen Frauen diesen Rechtsanspruch. Die Apothekenfachfrau muss sogar noch eine zweite Kürzung hinnehmen. Die Mitarbeiterinnen im damaligen Gesundheitswesen verdienten ausgesprochen wenig. Fürs Alter war ihnen eine höhere Rentenverrechnung versprochen. Auf die Einlösung dieses Versprechens wartet Ute Eichhorn bis heute.

Karin Schäfer lebt jetzt im 69. Lebensjahr. Sie wagt überhaupt nicht, über ihre Zukunft nachzudenken: »Ich muss arbeiten gehen, mein ganzes Leben lang. Keine Ahnung, wovon ich leben soll, wenn das mal nicht mehr geht.«