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Unter dem Dach der Frauenhäuser

erschienen in Lotta, Ausgabe 12,

Seit vier Jahrzehnten gibt es in der Bundesrepublik Frauenhäuser. Sie sind Schutzraum, Ort für ein neues Selbstverständnis und stehen doch immer wieder auf der Kippe.

Eine Frau sagt aus: »Ich war im neunten Monat schwanger, als ich mit einem zerplatzten Trommelfell beim Ohrenarzt saß …« Er fragte: »War das der Vater?« Und dann: »Sie schlagen alle immer auf das linke Ohr. Wenn es das linke Ohr ist, dann war es immer der Mann.« »Es war nicht das erste Mal, dass er mich schlug. Und trotzdem sollte es zwei Jahre dauern, bis ich in der Lage war zu gehen. Darüber schäme ich mich am meisten. Bis heute so sehr, dass ich diesen Text nur anonym schreiben will … Ich blieb lange, weil er, wie jeder Mann, der seine Partnerin schlägt, nicht in jeder Minute der schlagende Partner ist. Weil es Momente gab, in denen ich wieder und wieder Hoffnung schöpfte, dass wir ein Familienleben haben können – ohne brutale Aussetzer. Die meisten Frauen brauchen Jahre, um sich von ihrem gewalttätigen Partner zu trennen – falls sie es überhaupt schaffen.«

Die Frau, die sich traute und ihre Geschichte öffentlich machte, brauchte – wie sie sagt – zwei lange Jahre, bis sie endlich ging. Sie wollte nicht, dass ihre Tochter lernt, dass der Vater die Mutter immer wieder schlägt und sie trotzdem bleibt. Ihre Geschichte ist kein Einzelfall. Vierzig Prozent der Frauen in Deutschland erleben seit ihrem 16. Lebensjahr körperliche und/oder sexuelle Gewalt. Gewalt gegen Frauen geht quer durch alle Schichten der Gesellschaft. Um Frauen davor zu schützen, gründeten vor 40 Jahren Frauen, die sich der Frauenbewegung verbunden fühlten, erste Frauenhäuser. Im Jahr 1976 entstanden die ersten Schutzeinrichtungen in Berlin und Köln. Das Kölner Frauenhaus initiierten Studentinnen und ihre Professorin. Der Name: Frauen helfen Frauen.

Aus diesen zarten Anfängen entstand eine richtige Bewegung. Sie setzte und setzt auf Solidarität und Parteilichkeit und lässt sich von feministischen und antirassistischen Grundsätzen leiten. Von den heute existierenden rund 350 Frauenhäusern in der Bundesrepublik bezeichnen sich etwa 130 als Autonome Frauenhäuser. Im Oktober 2016 kamen ihre Vertreter*innen nach Bonn, um das runde Jubiläum zu begehen. Es war ein Tag der Bilanz, mit durchaus kritischen Tönen, vor allem aber mit Forderungen für das Hier und Jetzt. Denn gab es am Anfang der Bewegung eine starke Identifizierung mit den Opfern vonseiten der Mitarbeiter*innen in den Frauenhäusern, wurde diese mit zunehmender Institutionalisierung der Bewegung und Professionalisierung der Arbeit schrittweise abgelöst. Im Mittelpinkt des Interesses steht heute mehr und mehr die Erforschung struktureller und hierarchischer Ursachen der Gewalt gegen Frauen. Es ist aber der Frauenhausbewegung zu verdanken, dass das Thema Gewalt gegen Frauen öffentlich und ein Teil des gesellschaftlichen Diskurses wurde.

Insgesamt lassen sich vier Entwicklungsphasen in der Geschichte der Autonomen Frauenhäuser ausmachen. Die Gründungsphase in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre, da standen Selbstverwaltungs- und Selbstermächtigungsprogramme auf der Tagesordnung. Der nächste Schritt umfasste die Zeit Mitte der 1980er bis Mitte der 1990er Jahre. Sie war bereits von einer zunehmenden Institutionalisierung und wachsenden Professionalität geprägt. Daran schlossen sich ein erweitertes Hilfeangebot und eine stärkere Spezialisierung an. Und schließlich folgte Phase vier. Damit wurden auch andere soziale Gruppen erfasst – beispielsweise die Polizei mit dem Einsatzbefehl »häusliche Gewalt« und eine entsprechende Schulung und Sensibilisierung. Nunmehr gab es nicht mehr nur Schutzeinrichtungen für Frauen, sondern auch für Kinder und Männer.

Die zukünftige Entwicklung bleibt allerdings weiterhin mit einem grundsätzlichen Problem behaftet: dem Geldmangel. Die Finanzierung der Frauenhäuser und des Hilfesystems basiert auf freiwilligen Leistungen der Länder und Kommunen. DIE LINKE fordert seit Jahren nicht nur einen Rechtsanspruch auf Schutz für von Gewalt betroffene Frauen und Kinder, sondern ebenso eine bundeseinheitliche Finanzierung. Es muss Schluss sein mit der sogenannten Tagessatzfinanzierung, bei der berechtigte Frauen für den Aufenthalt im Frauenhaus auch Hartz IV beantragen müssen. Die Finanzierung gehört in staatliche Hände, so wie auch der Schutz von Leib und Leben laut Grundgesetz die Pflicht des Staates ist.

Irina Modrow ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich feministische Politik der Fraktion DIE LINKE

Gewalt gegen Frauen in Zahlen und Fakten:

Bundesweit wurden im Jahr 2015 mehr als 127 000 Fälle häuslicher Gewalt registriert

  • 82 Prozent der Opfer waren Frauen, in ganz Deutschland sind das mehr als 104 290 weibliche Opfer pro Jahr
  • Seit 2012 registriert die Polizei einen Anstieg der Gewalttaten in Partnerschaften von 5,5 Prozent
  • Mit 63,9 Prozent ist vorsätzliche Körperverletzung die häufigste Straftat
  • Die Beratungen am bundesweiten Hilfetelefon »Gewalt gegen Frauen« sind im Vergleich zum Vorjahr um 25 Prozent gestiegen
  • Jährlich suchen 15 000 bis 17 000 Frauen Zuflucht in Frauenhäusern oder Schutzwohnungen, zusammen mit den betroffenen Kindern sind es 30 000 bis 34 000 Personen
  • Nach Auskunft der Bundesregierung gibt es rund 350 Frauenhäuser und 40 Schutzwohnungen in Deutschland
  • Die angebotenen Plätze reichen nicht aus, jedes Jahr müssen einige Tausend Frauen abgewiesen werden, da die Einrichtungen voll belegt waren
  • Laut Empfehlung des Europarats sollte auf 7 500 Einwohner ein Frauenhausplatz bereitgestellt werden; demnach fehlen in Deutschland rund 4 000 Frauenhausplätze
  • Die Mehrheit der Frauenhäuser ist nicht barrierefrei, der Zugang von Frauen mit Behinderung ist damit erschwert oder unmöglich