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Soziale Integration statt Sündenbockpolitik

Von Sevim Dagdelen, erschienen in Clara, Ausgabe 38,

Ein Essay über die Integration von Flüchtlingen und notwendige politische Veränderungen von Sevim Dagdelen

Als Reaktion auf die barbarischen Anschläge des sogenannten Islamischen Staats in Paris haben Teile der Union nicht nur begonnen, sich für eine völlige Abschottung gegenüber Flüchtlingen einzusetzen. Sie versuchen zudem, Flüchtlinge pauschal unter Terrorismusverdacht zu stellen. Ein solches Verhalten ist aber nicht allein schäbig, es ist auch Gift für die große Aufgabe der Integration der Flüchtlinge in Deutschland.   Schaffen wir das?   Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte zwar stets vollmundig erklärt: „Wir schaffen das.“ Dann aber hat sie die Länder und Kommunen alleingelassen. Auch die jetzt verabredete Kostenübernahme des Bundes reicht bei Weitem nicht aus und setzt insbesondere die Kommunen stark unter Druck. Mit dieser Politik aber wird Rassismus regelrecht geschürt. Denn somit ist klar, dass Kommunen die Aufgabe der Flüchtlingsunterbringung nur bewältigen können, indem sie andere Aufgaben vernachlässigen. Die Lösung der Aufgabe der sozialen Integration muss mit der Erneuerung des Sozialstaats für alle in Deutschland verknüpft werden. Zur Bewältigung der Flüchtlingskrise ist ein Investitionsprogramm des Bundes für den sozialen Wohnungsbau, für Gesundheit, Bildung und den öffentlichen Nahverkehr notwendig. Bezahlbarer Wohnraum ist gerade in Metropolen ein zunehmendes Problem geworden. Im Jahr 2014 sind lediglich 9.000 Sozialwohnungen gebaut worden. Nötig aber ist der jährliche Bau von mindestens 200.000 Sozialwohnungen.   Sozialstaat erneuern   Die Erneuerung des Sozialstaats lässt sich ebenso wenig wie die Flüchtlingskrise ohne massive Umverteilung von oben nach unten bewerkstelligen. Die Superreichen in diesem Land müssen einen gerechten Anteil an den Kosten tragen. Es kann nicht sein, dass oligarchische Strukturen in Deutschland sich immer weiter verfestigen und mittlerweile die 500 reichsten Familien über ein Vermögen von 600 Milliarden verfügen, das auch noch weit stärker wächst als Löhne und Gehälter. Wenn Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) mit einer schwarzen Null im Haushalt plant, gleichzeitig die Schuldenbremse nicht aufgehoben wird und sich dazu noch die Große Koalition einig ist, jegliche stärkere Besteuerung von Vermögenden zu verhindern, dann bedeutet das: Beschäftigte und Mittelschicht sollen – wie schon in der Bankenkrise – allein bezahlen.    EU in die Pflicht nehmen   Auch auf europäischer Ebene versagt die Bundesregierung in der Flüchtlingsfrage auf ganzer Linie. Gerade osteuropäische Länder verweigern den Flüchtlingen jede Solidarität, sind aber selbst ganz vorne mit dabei, wenn es darum geht, europäische Solidarität einzuklagen bei der Inanspruchnahme von EU-Fonds. Die Einigung auf eine Verteilung der Flüchtlinge in der EU ist nicht nur wirklichkeitsfremd, sondern kommt infolge der Blockade in Osteuropa nicht weiter voran. Die Bundesregierung weigert sich bisher beharrlich, die Einführung einer europäischen Flüchtlingsabgabe überhaupt in die Diskussion zu bringen, die von Ländern, die keine oder nur wenige Flüchtlinge aufnehmen, zu zahlen wäre. Sie nutzt auch ihren Einfluss nicht, damit die Europäische Zentralbank ein europäisches Investitionsprogramm finanziert, das bevorzugt den Ländern zugutekommt, die viele Flüchtlinge aufnehmen. Damit macht die Bundesregierung ein Scheitern dieses auch für den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft so wichtigen Projekts wahrscheinlicher.   Radikalisierung vorbeugen   Die jüngsten Anschläge von Paris und das Beispiel Belgien, aus dem einige der mutmaßlichen Attentäter stammen sollen, zeigen: Die Kombination aus sozialer Desintegration, Ausgrenzung und radikalislamistischen Ideologien bilden einen fruchtbaren Nährboden für barbarische Weltanschauungen. Bereits in den 70er Jahren hatte der belgische Staat Saudi-Arabien großen Einfluss auf die Förderung islamistischer Strukturen in Belgien eingeräumt. Es ist unbestritten, dass dies zu einer massiven Radikalisierung beigetragen hat, die in Kombination mit sozialer Verelendung eine gefährliche Mischung ergibt. Auch Deutschland lässt Saudi-Arabien und seine problematischen Förderer von Bildungseinrichtungen weitgehend gewähren. Eine Integrationspolitik, die ihren sozialen Auftrag ernst nimmt, muss aber verhindern, dass die Diktaturen am Golf versuchen, die Menschen religiös zu spalten und gegeneinander aufzuhetzen.   Nazis raus aus den Köpfen   Fast jede Nacht brennen in Deutschland Flüchtlingsheime. Eine Minderheit von Nazis, Rechtsextremen und Rassisten setzt die Hetze gegen Schutzsuchende, wie sie auch von der Pegida-Bewegung hoffähig gemacht worden ist, in brutale Mordanschläge um. Diese Terrorwelle, die die Integration der Flüchtlinge gewaltsam verhindern will und die sich auch gegen die vielen Flüchtlingshelfer richtet, muss gestoppt werden. CDU-Innenminister Thomas de Maizière, aber auch Polizei und Justiz sind bisher nicht in der Lage, entschieden zu handeln und die Täter dieser Terrorwelle unter Verfolgungsdruck zu setzen. Die Frage der Verteidigung der Flüchtlinge aber ist die Frage nach der Verteidigung des Rechtsstaats insgesamt. Dieser Rechtsterrorismus muss geächtet und bekämpft werden. Die Täter sind eben keine besorgten Bürger, sondern Menschenfeinde. Sie zielen darauf ab, die Integration gewaltsam zu verhindern. Dagegen muss sich eine demokratische Gesellschaft zur Wehr setzen.   Asylrechtsverschärfungen   Aber nicht nur Rechtspopulisten zielen auf eine Aussonderung von Flüchtlingen. Gerade die Große Koalition hat es mit ihren jüngsten Asylrechtsverschärfungen regelrecht darauf angelegt, Integration zu hintertreiben. Auch die Grünen haben durch ihre Zustimmung in Baden-Württemberg und Hessen dafür gesorgt, dass diese integrationsfeindlichen Gesetze im Eiltempo durchgepeitscht werden konnten – ganz im Gegensatz zu den von der Partei DIE LINKE mitregierten Ländern Brandenburg und Thüringen. Kern dieser Asylrechtsverschärfungen ist die zwingende künftige Unterbringung von Asylbewerberinnen und -bewerbern in Sammelunterkünften. Diese Kasernierung aber erschwert die Akzeptanz von Flüchtlingen in der Bevölkerung. Das hat erst jüngst eine Studie zur Wohnsituation von Asylbewerbern in Bundesländern und Kommunen ergeben, die von der Robert-Bosch-Stiftung in Auftrag gegeben worden war. Dort werden auch die Erfolgsfaktoren für die Integration genannt: langfristige dezentrale Wohnmöglichkeiten, eine frühzeitige Information und Beteiligung der Bevölkerung und eine Einbindung der Flüchtlinge in das Leben vor Ort.   Potenziale ungenutzt   Das organisierte Staatsversagen im Hinblick auf die Integration von Flüchtlingen wird auch auf dem Rücken der vielen ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer ausgetragen, die mit anpacken und ohne die existenzielle Strukturen nicht aufgebaut werden könnten. Hier darf das ehrenamtliche Engagement zum einen nicht weiter genutzt werden, um sich aus staatlicher Verantwortung zu stehlen, zum anderen muss es eine Unterstützung und gute Vernetzung mit diesen ehrenamtlichen Strukturen geben.   Selbstorganisation   Oft wird in der Integrationsdebatte über die Köpfe der Betroffenen hinweg geredet und entschieden. Dabei organisieren sich viele Flüchtlinge und Migrantinnen und Migranten selbst, um die Integration voranzutreiben und gegen gesellschaftliche Ausgrenzung aktiv zu werden. Diese Arbeit von Flüchtlingsinitiativen und Migrantenorganisationen muss endlich anerkannt und aufgewertet werden, damit alle davon profitieren. Ziel ist eine Erneuerung des Sozialstaats für alle. Die soziale Integration der Flüchtlinge ist dafür ein wichtiger Schritt.    Sevim Dagdelen ist migrations- und integrationspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE