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„Sexualisierte Gewalt ist niemals in Ordnung – egal, woher die Täter stammen“

erschienen in Clara, Ausgabe 39,

Die Autorin Anne Wizorek hat im Januar mit anderen Feministinnen den Aufruf #ausnahmslos initiiert, um gegen sexualisierte Gewalt und Rassismus zu protestieren.

Nachdem in der Silvesternacht in Köln und anderen Städten Frauen sexuell belästigt und ausgeraubt wurden, ist eine hitzige Debatte entbrannt. Inwiefern wird diese Diskussion dadurch beeinflusst, dass viele der Täter offenbar einen Migrationshintergrund haben?   Anne Wizorek: Aktuell fällt auf, dass sich viele Leute, die bisher das Problem des Sexismus heruntergespielt haben, zu Wort melden, weil es um Männer mit Migrationshintergrund geht. Diese Debatte wird instrumentalisiert. Das wird dem gesellschaftlichen Problem der sexualisierten Gewalt nicht gerecht und verstärkt lediglich rassistische Ressentiments.   Die Auffassung, dass Männer aus islamisch geprägten Ländern mit einem anderen Frauenbild aufwachsen und deshalb eher zu sexualisierter Gewalt neigen, ist weit verbreitet.   Diese Auffassung unterstellt, dass es das Patriarchat nur in islamischen Ländern gibt, und blendet aus, dass Sexismus und sexualisierte Gewalt auch in Deutschland existieren. Diese Form der Gewalt ist niemals in Ordnung, egal, woher Täterinnen oder Täter stammen. Wer über sexualisierte Gewalt und Sexismus reden will, darf nicht pauschal nur eine Menschengruppe als Auslöser betrachten.    Die feministische Publizistin Alice Schwarzer hat gesagt, die arabischen und nordafrikanischen Täter seien das Produkt einer gescheiterten Integration.   Natürlich müssen wir auch anschauen, welche Rolle fehlende Inklusion spielt. Aber dabei geht es vor allem um die Verantwortung der Mehrheitsgesellschaft: Wo verhindert sie zum Beispiel Partizipation und selbstbestimmtes Leben? Inwiefern begünstigt das gewalttätiges Verhalten? Es ist übrigens nicht das erste Mal, dass Alice Schwarzer rassistisch argumentiert. Bemerkenswert finde ich, dass Leute, die sonst mit Feminismus nichts anfangen können, plötzlich zu Fans von Alice Schwarzer werden. Da ist viel Heuchelei dabei. Ich wehre mich dagegen, dass feministische Werte benutzt werden, um eine rassistische Agenda zu legitimieren. Das war einer der Gründe für den Aufruf #ausnahmslos.   Inwiefern wird die Debatte instrumentalisiert?   Manche Politikerinnen und Politiker benutzen die Diskussion, um ihre eigenen Ziele durchzusetzen. Das, was in Köln und woanders passiert ist, wird missbraucht, um mehr Überwachung durchzusetzen und schnellere Abschiebungen zu realisieren. Die Faktoren für sexualisierte Gewalt anzuschauen und was dagegen getan werden kann, ist dabei längst nicht mehr im Fokus.    Die Kölner Bürgermeisterin Henriette Reker hat Frauen empfohlen, sicherheitshalber eine Armlänge Abstand zu halten.   Es ist nicht in Ordnung, die Schuld bei Mädchen und Frauen abzuladen. Selbstverständlich müssen die Täter ihr Verhalten ändern. Gefreut hat mich, dass viele diesen Tipp von Henriette Reker schnell kritisiert haben. Das zeigt, dass es kleine Fortschritte gibt.    Was muss getan werden, um Opfer von sexualisierter Gewalt besser zu unterstützen?   Wenn es um Betroffene geht, denken wir oft nur an Frauen. Mir geht es aber um alle Menschen, die von sexualisierter Gewalt betroffen sein können. Es muss zum Beispiel die Infrastruktur dringend ausgebaut werden. Es gibt nicht genug Hilfe- und Beratungsstellen, an die sich Betroffene wenden können. Und die Stellen, die es gibt, arbeiten oft prekär. Es gibt kaum ein Frauenhaus, das auskömmlich und dauerhaft finanziert ist.    Was muss bei der Aufklärung und Gewaltprävention verbessert werden?   Entscheidend ist das Prinzip der Einvernehmlichkeit: Nur wenn die andere Person ausdrücklich einwilligt, darf ich sie anfassen, umarmen, küssen, mit ihr Sex haben. Das sollte in Integrationskursen eine Rolle spielen, genauso wie in allen anderen pädagogischen Kontexten.   Beispielsweise bei der Sexualaufklärung in der Schule?   Es geht ja nicht nur darum, zu erläutern, wie Fortpflanzung und Verhütung funktionieren. Vermittelt werden sollte, wie respektvolles Miteinander aussieht, in einer Beziehung genauso wie beim Casual Sex. Es muss klar sein, dass alles, was geschieht, einvernehmlich passiert. Das fängt dabei an, dass auch beigebracht wird, wie man die eigenen Grenzen und Bedürfnisse überhaupt erkennt und formuliert, ohne sich dabei zu schämen.    In Deutschland ist die Vergewaltigung in der Ehe erst seit dem Jahr 1997 strafbar. Ist es an der Zeit, einen Straftatbestand der sexuellen Belästigung einzuführen?   Ja, das Sexualstrafrecht muss hier reformiert werden. Bisher wird sexuelle Belästigung nur im Rahmen des Antidiskriminierungsgesetzes behandelt. Der Geltungsbereich muss ausgeweitet werden. Jede sexuelle Handlung gegen den Willen einer anderen Person muss strafbar sein.    Was muss sich bei Polizei und Justiz verändern?   Die Behörden und Institutionen müssen darauf geschult werden, mit Fällen von sexualisierter Gewalt sensibel und mit Fachwissen umzugehen. Da gibt es bei der Polizei und Justiz großen Nachholbedarf. Oft sind auch sie nicht frei von Vergewaltigungsmythen wie dem kurzen Rock, der angeblich Übergriffe provoziert haben soll.    Sind das Gründe, weshalb so wenige Vergewaltigungen angezeigt werden?    Leider ist noch immer die Ansicht weitverbreitet, dass die vergewaltigte Person daran selbst schuld ist. Deshalb ist die Scham oft so groß, dass die betroffene Person gar nicht zur Polizei geht, um Anzeige zu erstatten. Hinzu kommt der rechtliche Aspekt. Das aktuelle Gesetz hat erhebliche Schutzlücken, diese müssen endlich geschlossen werden. Das sagt zum Beispiel auch der Deutsche Juristinnenbund.    Vor etwas mehr als drei Jahren haben Sie die Kampagne #aufschrei initiiert. Wie fällt Ihre Zwischenbilanz aus?    Sexismus galt als überholtes Problem. Es ist uns gelungen, einer alten Debatte neues Leben einzuhauchen und vielen Frauen zu vermitteln: Ich bin nicht schuld, ich bin nicht allein, ich darf mir Hilfe holen. Aufgrund der breiten Debatte hatte allein die Antidiskriminierungsstelle des Bundes ein Drittel mehr Anfragen – Hilfsangebote wurden dadurch also auch besser wahrgenommen. Das zeigt, dass wir etwas bewegen konnten. Daran wollen wir anknüpfen und zugleich die Verquickung von Sexismus mit anderen Diskriminierungsformen sichtbarer machen.    Das Interview führten Jana Hoffmann und Ruben Lehnert.   Anne Wizorek, Jahrgang 1981, zählt zu den bekanntesten Feministinnen in Deutschland. Vor drei Jahren hat sie die Kampagne #aufschrei initiiert: Unter diesem Hashtag veröffentlichten Frauen Erfahrungen mit Sexismus und sexualisierter Gewalt in Deutschland. Jüngst startete sie mit anderen Aktivistinnen den Aufruf #ausnahmslos. Im Jahr 2014 veröffentlichte sie das Buch „Weil ein Aufschrei nicht reicht. Für einen Feminismus von heute“ (Fischer, 14,99 Euro).