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Schuften, bis der Arzt kommt

erschienen in Klar, Ausgabe 43,

Ein sonniger Nachmittag irgendwo in Nordrhein-Westfalen. Hans-Jürgen Tanner (Name geändert) steuert einen weißen Transporter. Seit 5.30 Uhr arbeitet er ohne Unterbrechung. Feierabend macht er erst gegen 18 Uhr. Als Paketfahrer muss er Tag für Tag rund 200 Pakete persönlich ausliefern. Frühmorgens holt er die Pakete im Depot vom Band, erfasst sie und lädt sie in den Transporter. Die optimale Route muss er im Kopf haben. Zeit, um alle Adressen in sein Navi einzugeben, hat er nicht. Auch nicht für eine Mittagspause. Essen und Trinken kann er nur während der Fahrt.

Hans-Jürgen Tanner arbeitet für ein Unternehmen, das der Paketdienst GLS angeheuert hat. Weil GLS mit seiner Marktmacht seine Subunternehmer unter starken Preisdruck setzt, gibt sein Chef diesen Druck weiter. Hans-Jürgen Tanner erhält ein Festgehalt von 1.650 Euro brutto im Monat. Fast alle Fahrer arbeiten länger als im Arbeitsvertrag vereinbart. Bei einer Arbeitswoche mit 55 oder 60 Stunden liegt der reale Stundenlohn unter dem gesetzlichen Mindestlohn von derzeit 8,84 Euro. Um Ärger mit seinem Chef zu vermeiden, möchte Hans-Jürgen Tanner anonym bleiben.

Weil immer mehr Kundinnen und Kunden ihre Waren zu Hause per Mausklick bestellen, boomen Paketdienste. Auf seinen Touren begegnen ihm regelmäßig Fahrerinnen und Fahrer der Konkurrenz. Dazu zählen die Logistikkonzerne DPD, DHL, TNT und GLS. All diese weltweit operierenden Unternehmen haben von der Privatisierung ehemals staatlicher Postbehörden profitiert. Heute kämpfen sie mit harten Bandagen gegeneinander um Marktanteile. Weil die Aktionäre auf hohe Rendite drängen, werden Kostendruck und Risiko auf Beschäftigte und ein Geflecht von Subunternehmen abgewälzt.

Beispiel Deutsche Post DHL Group. Seit der im Jahr 1994 vom Bundestag beschlossenen Privatisierung der Post wächst der Druck auf die Beschäftigten im Postsektor. Früher gab es sichere Arbeitsplätze und ein auskömmliches Einkommen. Von diesen Löhnen, Betriebsrenten und Arbeitszeiten können neu eingestellte Beschäftigte der Post-Billigtochter Delivery, Fahrer bei Subunternehmen wie Hans-Jürgen Tanner oder Ein-Mann-Subunternehmen mit mageren Prämien heute nur träumen.

Vor einem Einfamilienhaus stoppt Hans-Jürgen Tanner den Transporter, holt Pakete aus dem Laderaum und eilt im Laufschritt auf die Empfängeradresse zu. Öffnet niemand die Tür, muss er eine Benachrichtigung ausfüllen. Oft trägt er sperrige, bis zu 40 Kilogramm schwere Pakete in den dritten oder vierten Stock. „Bis zur Rente mit 67 halte ich das nicht durch“, sagt er: „Das geht auf Kreuz und Knochen.“ Zeit für den Arztbesuch bleibt ihm nicht. „Aus Angst um den Job reißen sich viele zusammen und fahren auch mit Fieber noch Pakete aus.“